Im Innenhof eines Rohbaus ragt ein großer flacher Betonzylinder aus dem Boden, ein Teil der Schalung ist noch vorhanden.
Bau eines Eisspeichers, hier in Köln. (Foto: © Raimond Spekking/​Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0)

Das Feld am Rand von Bad Nauheim gehört einem Landwirt, der hier normalerweise Weizen anbaut. Im Moment klaffen in dem Acker jedoch großflächige Löcher mit spiralförmig verlegten Kunststoffrohren. Denn schon bald soll er nicht nur Getreide liefern, sondern auch "kalte" Wärme für etwa 1.000 Menschen im Neubaugebiet Bad Nauheim Süd, das rund 700 Meter entfernt entsteht.

Die ersten Häuser sind im Bau, Einzug ist ab Ende dieses Jahres geplant. Die 32.000-Einwohner-Stadt liegt rund 30 Kilometer nördlich von Frankfurt am Main; der Wohnungsnotstand und damit einhergehende Bauboom der hessischen Metropole reicht bis in die beschauliche Kurstadt.

Das Konzept, das die Stadt zusammen mit ihren Stadtwerken für das Neubaugebiet gewählt hat, heißt kalte Nahwärme. "Kalt" ist das Nahwärmenetz deshalb, weil es nur mit rund zehn Grad Celsius arbeitet. Die Rohre, die als Kollektoren dienen, werden auf zwei Ebenen in 1,5 und drei Metern Tiefe verlegt, wo diese Temperatur ganzjährig in etwa herrscht.

Ein Wasser-Glykol-Gemisch nimmt die Erdwärme auf und transportiert sie über unterirdische Leitungen zu den Grundstücken. Jedes Haus hat seine eigene Wärmepumpe, die den nötigen Temperaturanstieg für Heizung und Warmwasser besorgt. Und im Sommer können die ankommenden zehn Grad auch zur Kühlung verwendet werden.

Das System arbeitet CO2-neutral, da der benötigte Strom aus erneuerbaren Energien stammt, und spart nach Angaben der Stadt jährlich etwa 750 Tonnen CO2 gegenüber einer Beheizung mit Erdgas ein.

Größtes Projekt für kalte Nahwärme in Deutschland

Weiterer Vorteil: Die Anlage nimmt nicht nur in den Häusern äußerst wenig Platz weg – auch der Acker ist lediglich unterirdisch zweitgenutzt. An der Oberfläche über den verlegten Kollektoren werden schon bald wieder landwirtschaftliche Maschinen rollen.

Geeignet ist die Technik für gut gedämmte Gebäude mit niedrigem Heizbedarf, ein Neubaugebiet ist daher ideal. Es muss aber kein Nahwärmenetz sein, auch einzelne Häuser lassen sich damit versorgen. Die Kollektoren liegen dann beispielsweise unter dem Garten oder Carport.

Die Nahwärmeanlage in Bad Nauheim ist nach Aussagen von Bürgermeister Klaus Kreß (parteilos) deutschlandweit die größte dieser Art, "vermutlich sogar europaweit". Kostenpunkt: rund fünf Millionen Euro. "Aktuell setzen wir das Projekt ohne Zuschüsse um", sagt Kreß. Ausschlaggebend für die Entscheidung sei das Ziel der Stadt gewesen, eine innovative, ökologische und effiziente Wärmeversorgung anzubieten.

Die Verbraucher kostet die Ökowärme 14,28 Cent pro Kilowattstunde. Mit diesem Preis lägen die Stadtwerke "unter dem Wettbewerbsniveau", sagt der Bürgermeister. Er enthalte sämtliche Kosten für den Betrieb der Anlage, inklusive dem Betriebsstrom der Wärmepumpe, sowie Wartung und Service, Notdienst und Reparaturen jeglicher Art.

Das System ist so ausgelegt, dass alle Häuser im Neubaugebiet damit versorgt werden können. Ein Anschlusszwang besteht aber nicht. Sollte Wärme übrig sein, könnte sie für eine mögliche Erweiterung oder ein weiteres Baugebiet genutzt werden. Dazu wird es laut dem Stadtoberhaupt aber voraussichtlich nicht kommen: "Aktuell laufen die Vertragsabschlüsse. Bisher ist die Resonanz sehr gut. Wir rechnen mit einer Anschlussquote zwischen 85 und 90 Prozent."

Auch Hausbauer, die sich gegen die Nahwärme entscheiden, sind praktisch gezwungen, ökologisch zu heizen: Ein Gasanschluss wird nicht gelegt, und Ölheizungen – die im Neubau sowieso kaum noch eingebaut werden – sind nicht erlaubt, weil das Baugebiet in einem Heilquellenschutzgebiet liegt. Das schließt auch Tiefenbohrungen für individuelle Erdwärmepumpen aus.

Eisspeicher plus Solarstrom plus Erdgas

Häufig ist ein Nahwärmenetz aber mit einem Anschluss- und Benutzungszwang verbunden, so auch in der 15 Kilometer südwestlich von Bad Nauheim Süd gelegenen Ökosiedlung Friedrichsdorf. In dem neuen Quartier der 25.000-Einwohner-Stadt im Vordertaunus entstehen Ein- und Mehrfamilienhäuser, eine Seniorenwohnanlage, Nachbarschaftstreff und Kindertagesstätte sowie Gewerbeflächen für Bäcker und andere kleine Geschäfte. Mehr als 700 Menschen sollen hier leben, wenn alles fertig ist.

Das Herzstück des Nahwärmenetzes ist ein unterirdischer Eisspeicher von sieben Metern Tiefe und 17 Metern Durchmesser, der 1,2 Millionen Liter Wasser fasst. Die Hülle aus Beton ist bereits fertig, jetzt werden die Anschlüsse verlegt. Dem Wasser entzieht eine große Wärmepumpe im Winter Energie, die zum Heizen und für Warmwasser in allen Gebäuden der Siedlung verwendet wird. So friert der Speicher allmählich zu. Im Sommer taut er dann langsam wieder auf.

"Die Erdwärme allein reicht dafür aber nicht aus, nachgeholfen wird mit Solarenergie", erläutert Clemens Thoma von der Frank-Gruppe, die das Projekt im Auftrag der Stadt umsetzt. Dafür werden Solarabsorber und Photovoltaik-Solarthermie-Systeme eingesetzt. Denn zu Beginn der nächsten Heizperiode im Herbst muss das Eis komplett weg sein, damit der Prozess von vorne beginnen kann. Das gleiche System in Klein gibt es im Übrigen auch für Einfamilienhäuser.

Zum energetischen Konzept der Ökosiedlung gehören außerdem zwei gasbetriebene Blockheizkraftwerke (BHKW), die – ergänzt durch den Solarstrom – den gesamtem Strombedarf decken sollen und gleichzeitig Wärme erzeugen. "Der Eisspeicher liefert 35 Prozent des Gesamtwärmebedarfs der Siedlung, die BHKW 47 Prozent", sagt Thoma.

Spitzenlasten im Winter deckt ein Gasbrennwertkessel ab, das sind die restlichen 18 Prozent. Im Gegensatz zu Bad Nauheim Süd kommt das Nahwärmenetz in der Ökosiedlung Friedrichsdorf somit nicht ohne fossile Energie aus.

Die dezentrale, effiziente Energieversorgung macht das Konzept trotzdem förderungswürdig: "Wir erhalten von der EU, aus dem europäischen Fonds für regionale Entwicklung, einen sechsstelligen Betrag", so Thoma. Die Investitionskosten will die Frank-Gruppe nicht nennen.

Die Verbraucher zahlen für die Wärme 15,2 Cent pro Kilowattstunde, also etwas mehr als in Bad Nauheim. In Kombination mit der effizienten Bauweise funktioniere das angebotene Gesamtpaket sehr gut, sagt Thoma. "Das belegen unsere Verkaufszahlen sowie das Interesse an den Teilprojekten, die in den kommenden Monaten und Jahren noch auf den Markt kommen."

Auch kämen immer wieder Anfragen, insbesondere von Kommunen, die das Konzept interessiert. Sogar eine Besuchergruppe aus China hat die Ökosiedlung schon besucht, die auch in den Bereichen Mobilität, Baustoffe und Bepflanzung einen grünen Ansatz verfolgt.

Wahlmöglichkeit statt Pauschalangebot

Neue Wege geht auch die kleine Gemeinde Ober-Mörlen mit knapp 6.000 Einwohnern, die im Westen an Bad Nauheim angrenzt. Doch statt Nahwärme bietet der regionale Versorger Oberhessen-Gas hier individuelle Pakete an. Geschäftsführer Holger Reuss ist überzeugt: "Es gibt keine pauschalen Lösungen mehr."

Im Bauabschnitt 1A des Neubaugebiets Schießhütte Ober-Mörlen können die künftigen Hausbauer daher zwischen verschiedenen Energie- und Wärmekonzepten wählen – je nach Art des Hauses und individuellem Bedarf. Zu den Angeboten gehört auch eine Brennstoffzellenheizung.

Diese hocheffizienten Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen werden in Deutschland für die Strom- und Wärmeerzeugung in Gebäuden noch nicht oft eingesetzt. In Ober-Mörlen hat man damit aber bereits Erfahrung: Eine Brennstoffzelle steht in der örtlichen Volksbank, eine weitere versorgt seit August 2018 die Gemeindeverwaltung, die in einem ehemaligen Schloss untergebracht ist.

Wärme ist in diesen Fällen allerdings nur das Nebenprodukt, das Hauptaugenmerk liegt – gemäß dem konstant hohen Bedarf – auf der Stromerzeugung. Die hier eingesetzten Brennstoffzellen haben eine elektrische Kapazität von 1,5 Kilowatt und eine thermische von 0,8 Kilowatt – womit sie nur einen kleinen Zusatz zur Wärmeversorgung liefern können. Das Rathaus spart nach Aussagen von Reuss mit der neuen Technik jährlich etwa 2,7 Tonnen CO2 ein.

Für Wohnhäuser bietet Oberhessen-Gas ein Modell an, das mit einem Gasbrennwertgerät kombiniert ist, um den anfallenden Wärmebedarf zu decken.

Emissionsfrei ist diese Art der Energieversorgung nicht, aber "gegenüber dem Bezug konventionellen Stroms aus dem Netz und der Wärmeerzeugung über einen konventionellen Brennwertkessel wird nur rund die Hälfte an CO2 freigesetzt", sagt Andreas Biermann, Vertriebsleiter von Oberhessen-Gas. "Somit ist die Brennstoffzelle sowohl für die Umwelt als auch für den eigenen Geldbeutel lohnenswert."

Am Anfang steht jedoch eine bedeutende Investition: Noch sind die Stückzahlen klein und die Preise entsprechend hoch. "Für ein Einfamilienhaus müssen Sie mit 20.000 bis 30.000 Euro rechnen", so Biermann.

Daher wird die Anschaffung staatlich gefördert: Unter bestimmten Voraussetzungen gibt es 5.700 Euro fest plus 450 Euro je angefangene 100 Watt elektrischer Leistung. Die Einspeisevergütung für die Kilowattstunde Strom beträgt gemäß dem Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz acht Cent, und der Eigenverbrauch wird mit vier Cent gefördert. "Die Anlage amortisiert sich im Regelfall nach fünf bis sieben Jahren", sagt der Vertriebsleiter.

Hoffen auf grünes Gas aus Ökostrom

Hundertprozentig grün wird die Brennstoffzelle erst, wenn ihr Wasserstoff nicht mehr aus Erdgas, sondern aus Ökostrom gewonnen wird. Dass "Power to Gas" mit fortschreitender Energiewende eine immer größere Rolle spielen wird, wird allgemein erwartet.

Der kommunale Versorger Oberhessen-Gas, der einst ausschließlich Erdgas verkauft hat, sieht darin für sich auch eine Chance jenseits des fossilen Zeitalters: "Die Erdgasleitungen sind der größte Speicher der Bundesrepublik", sagt Geschäftsführer Reuss. Und auch das Transportnetz stehe bereits zur Verfügung.

Ob sich die Technik durchsetzt, hänge davon ab, inwieweit sie politisch forciert wird. Bei Oberhessen-Gas hofft man darauf, stellt aber auch fest, dass in Neubaugebieten immer häufiger gar keine Erdgasversorgung mehr nachgefragt wird. Auch für die weiteren Bauabschnitte von Schießhütte Ober-Mörlen sind keine Gashausanschlüsse geplant. Damit ist die Brennstoffzelle raus.

Noch allerdings ist Erdgas – nach regenerativen Systemen wie Wärmepumpen – deutschlandweit der am zweithäufigsten genutzte Energieträger fürs Heizen im Neubau.

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