Die Hälfte aller blühenden Pflanzen ist vom Aussterben bedroht. (Bild: LPV Thüringer Wald/​Thünen-Institut)

Tausende Pflanzen- und Pilzarten, die bereits seit Millionen von Jahren unsere Erde bevölkern, sind unbekannt. Sie haben keinen Namen und tauchen in keiner Klassifikation auf. Das einzige, was die Wissenschaft mit relativer Sicherheit über sie zu sagen vermag, ist, dass auch sie durch den Klimawandel bedroht sind.

Laut dem neuen Bericht zum Zustand der Pflanzen und Pilze auf dem Planeten, "State of the World's Plants and Fungis", sind drei Viertel aller Pflanzenarten und rund 90 Prozent aller Pilzarten noch nicht beschrieben. Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass viele dieser Arten vor ihrer Entdeckung ausgestorben sein werden.

Es ist der fünfte derartige Bericht, den der Royal Botanic Garden im Londoner Stadtteil Kew veröffentlicht. Darin sammeln die Autor:innen die Erkenntnisse aus zahlreichen aktuellen Studien. Berücksichtigt werden sowohl Untersuchungen, die im Peer-Review-Verfahren überprüft wurden, als auch sogenannte Vorstudien, die dieses Verfahren noch nicht durchlaufen haben.

Gerade Arten, die noch nicht beschrieben wurden, haben ein hohes Risiko auszusterben, argumentiert der Bericht. Tatsächlich lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Datum der Erstbeschreibung einer Art und ihrem Aussterberisiko erkennen.

Grund dafür könnte sein, dass viele noch nicht oder erst spät entdeckte Arten auf einem vergleichsweise kleinen geografischen Areal vorkommen. Dann reichen bereits regionale Klimaveränderungen oder lokale Ereignisse wie die Zerstörung eines Ökosystems aus, um das Fortbestehen der Art zu gefährden.

Die Zahl der Arten, die vom Aussterben bedroht sind, ist in den letzten Jahren massiv angestiegen. "Als ich vor 30 Jahren als Systematiker anfing, hat man nicht einmal wirklich in Betracht gezogen, dass eine Art, die man gerade beschreibt, demnächst aussterben könnte", wird Martin Cheek, leitender Wissenschaftler am Royal Botanic Garden, in dem Bericht zitiert. "Heute stellt man vielleicht fest, dass man eine neue Art gefunden hat, nur um auf der Suche nach ihrem natürlichen Lebensraum keinen zu finden."

Am Beginn des sechsten Massenaussterbens

Nicht nur ein Großteil der Arten ist noch unbekannt, auch die komplexen Wechselwirkungen innerhalb von Ökosystemen – zwischen Arten, aber auch zwischen Arten und Umwelt – geben der Wissenschaft nach wie vor viele Rätsel auf. Es sei deshalb auch schwierig, die Rolle des Klimawandels für das Aussterberisiko von Pflanzen- und Pilzarten genau zu bestimmen, erklärte Alexandre Antonelli, Wissenschaftsdirektor in Kew.

Klar sei allerdings, dass der Klimawandel schon heute ein wichtiger Treiber des Artensterbens ist und sein Einfluss in Zukunft noch zunehmen wird, sagte Antonelli dem britischen Klimaportal Carbon Brief.

Die größte Bedrohung für Pflanzen wie auch Pilze ist gegenwärtig der Verlust von Lebensraum, etwa durch Waldrodung und die Ausweitung von Landwirtschaft oder durch das Bebauen von Flächen. Der Klimawandel kommt dann noch "obendrauf".

Änderungen bei Temperatur und Feuchtigkeit haben einen direkten Einfluss auf das Überleben von Pflanzen und Pilzen. Dabei hat das Ausmaß der Erderwärmung einen enormen Einfluss.

Der Weltklimarat IPCC schreibt in seinem sechsten Sachstandsbericht, dass bei einer Erwärmung um zwei Grad zehn Prozent aller Arten ein hohes Aussterberisiko haben. Bei drei Grad Erwärmung sind es schon zwölf Prozent.

Pflanzenarten sterben heute 500-mal schneller aus als unter natürlichen Bedingungen, also vor der Beeinflussung durch Menschen. Zu dem Ergebnis kommt der Bericht aus Kew.

Wenn alle Arten einbezogen werden, gehen einige Studien sogar von einem Unterschied um den Faktor 1.000 aus. Wissenschaftlich wird aufgrund dieser enormen Beschleunigung des Artensterbens diskutiert, ob sich die Erde im sechsten Massenaussterben befindet.

"Wir können das Blatt noch wenden"

Fünf solcher Ereignisse haben auf der Erde bereits stattgefunden und jeweils zwischen 70 und 95 Prozent aller Arten ausgelöscht.

Die schwerste dieser Aussterbewellen fand wahrscheinlich zum Ende des Perms vor etwa 250 Millionen Jahren statt. Aufgrund eines extremen Temperaturanstiegs verschwand innerhalb weniger zehntausend Jahre ein Großteil aller Arten von diesem Planeten.

Es ist durchaus möglich, dass wir uns am Anfang eines erneuten Massenaussterbens befinden. Die gegenwärtigen Raten stehen denen vergangener Ereignisse nicht nach.

Die Wissenschaft tappt noch im Dunkeln, wenn es um das Verstehen von Ökosystemen und besonders der komplexen Wechselbeziehungen zwischen Pflanzen und Pilzen geht. Umso größer sind die Gefahren, wenn weitere Arten aussterben, da die Folgen für die gesamte Biosphäre, auch für heute noch unbekannte Arten, schlicht nicht abschätzbar sind.

Der Bericht rät deshalb, alle neu entdeckten Arten als gefährdet und damit auch als besonders schützenswert einzustufen, solange nicht das Gegenteil erwiesen ist. Denn wirklich nachzuweisen, dass eine Art vom Aussterben bedroht ist, dauere oft lange – und dann könnte es bereits zu spät sein.

Chefbotaniker Antonelli schwankt zwischen Erschrecken und Zuversicht: "Ich bin absolut fassungslos. Ich denke, es ist eine Katastrophe und eine wirklich sehr ernste Situation. Aber wir wissen, dass es Lösungen gibt, und wir sind absolut zuversichtlich, dass wir das Blatt wenden können."

Anzeige