Gasrohre
Die Bundesregierung setzt auf neue Infrastruktur für Erdgas. (Foto: Susanne Götze)

Und der Verlierer ist ... Erdgas. Die Variante der Film-Oscar-Formel bezieht sich auf den Primärenergieverbrauch hierzulande im vergangenen Jahr. Die Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen hat bei dem flüchtigen Brennstoff ein Minus von 7,3 Prozent errechnet* – ein deutlich stärkerer prozentualer Rückgang als insgesamt.

Die Erklärung für das überdurchschnittliche Schrumpfen: Durch hohe Temperaturen ging der Wärmebedarf für Wohnungen, Büros und andere Räumlichkeiten spürbar zurück. Hinzugekommen seien der wachsende Anteil der Erneuerbaren bei der Stromerzeugung und die Preisentwicklung, so die Experten der Arbeitsgemeinschaft. Der massive Anstieg der Ölpreise nach dem Sommer drückte mit einer Zeitverzögerung auch die Notierungen für Erdgas nach oben. Außerdem verlor Erdgas an Attraktivität, da sich der Brennstoff für Kraftwerksbetreiber durch ein kräftiges Plus bei den Kosten für CO2-Emissionszertifikate zusätzlich verteuerte.

Minus 7,3 Prozent. Das bedeutet: Voriges Jahr wurde Erdgas mit einem Energiegehalt von etwas mehr als 3.000 Petajoule verfeuert. Damit war der Brennstoff aber immer noch mit einem deutlichen Vorsprung vor den Erneuerbaren der zweitwichtigste Primärenergieträger hierzulande – hinter Mineralöl, das vor allem für den Antrieb von Fahrzeugen eingesetzt wurde.

Minus 7,3 Prozent: Das passt zum Drehbuch der Energiewende und des Klimaschutzes. In gut 40 Jahren soll in Deutschland und anderswo die Energieversorgung fast komplett dekarbonisiert sein, um die Erderwärmung – wie im Pariser Klimaabkommen beschlossen – auf 1,5 Grad zu begrenzen. Also braucht es nach dem Atom- und dem Kohleausstieg auch einen Erdgasausstieg. Genauer gesagt: Das alles muss gleichzeitig passieren.

Bundesregierung setzt auf neue Gas-Infrastruktur

Doch den Nachrichten der vergangenen Wochen waren Meldungen zu entnehmen, die in eine ganz andere Richtung gehen. In die Ostsee sind schon weit mehr als 300 Kilometer eines neuen Röhrenstranges versenkt worden, der Nord Stream 2 genannt wird. Ende des Jahres soll die Pipeline fertig sein, um jährlich bis zu 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Deutschland zu pumpen, das dann zum Teil in andere europäische Länder weitertransportiert wird. Der russische Staatsmonopolist Gazprom kann damit seine Exporte in die EU um ein Drittel steigern.

Zudem wurde gerade der Startschuss für das Projekt Baltic Pipe gegeben, eine Gasleitung von Norwegen über Dänemark nach Polen mit einer Kapazität von jährlich zehn Milliarden Kubikmetern. Mehr noch: 2025 sollen Riesenrohre über mehr als 2.000 Kilometer hinweg Methan, das in Gewässern vor der israelischen Küste gefördert wird, nach Zypern, Griechenland und Italien transportieren.

Mitte Februar hat Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) bekräftigt, dass man nun den Bau eines deutschen LNG-Terminals angehen wolle, wo verflüssigtes Erdgas (Liquified Natural Gas – LNG) angelandet wird, das auch aus den USA kommen soll.

Dabei gibt es nach Angaben des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) in Europa bereits 27 Terminals, sieben weitere sind im Bau und 32 zusätzliche in Planung. Und das, obwohl die Pumpstationen nach Informationen von Branchenkennern derzeit nur zu 30 Prozent ausgelastet sind.

Wie lang wird die fossile Brücke zur Energiewende?

Gasschwemme und Gasausstieg. Wie lässt sich das auf einen Nenner bringen? Julia Verlinden, Sprecherin für Energiepolitik in der Grünen-Bundestagsfraktion, wundert sich: "Obwohl die Bundesregierung selbst von einem sinkenden Gasbedarf ausgeht, setzt sie weiter auf Infrastrukturprojekte wie Nord Stream 2 oder LNG-Terminals, die fossile Abhängigkeiten zementieren und klimapolitisch nicht vertretbar sind."

Die Lobbyorganisation "Zukunft Erdgas" verweist indes auf das Konzept für den Kohleausstieg, der bis 2038 bewältigt werden soll. Ende 2022 sollen in einem ersten Schritt Kraftwerke mit einer Kapazität von insgesamt 12.000 Megawatt stillgelegt werden. Deutschland verfüge über ausreichend Gaskraftwerkskapazitäten für einen geordneten Kohleausstieg, teilt Zukunft Erdgas mit.

Anlagen mit einer Gesamtleistung von 30 Gigawatt stehen zur Verfügung. Sie waren zuletzt laut einer Studie des Beratungshauses Aurora Energy Research aber nur zu gut einem Drittel ausgelastet. Gas werde neben den erneuerbaren Energien zur zweiten Säule des Energiesystems, betont Timm Kehler, Vorstand von Zukunft Erdgas.

Ohne Methan geht gar nichts? Alle Experten sind sich einig, dass die Nutzung des leicht flüchtigen Stoffs in der Stromversorgung eine Brückenfunktion haben wird. Doch wie lang und wie breit ist diese Brücke? Durch die von der Kohlekommission zur Stilllegung empfohlenen Kohlekraftwerke würde ein zusätzlicher Gasbedarf von 30 bis 50 Terawattstunden entstehen, hat Aurora im Auftrag von Zukunft Erdgas hochgerechnet. Der könne sogar auf 81 Terawattstunden klettern – bei einer Eins-zu-eins-Substitution der Kohle durch Erdgas, dessen Gesamtbedarf in Deutschland bis 2022 dadurch um bis zu acht Prozent steigen könnte.

Erneuerbare und Gas kämpfen um Marktanteile

Felix Matthes, Forschungskoordinator für Energie- und Klimapolitik beim Öko-Institut und Mitglied der Kohlekommission, macht derweil darauf aufmerksam, dass die Erneuerbaren die Aufgabe haben werden, die Hauptlast der Stromerzeugung von den Kohlekraftwerken zu übernehmen, die vom Netz gehen. "Dafür muss die Wind- und Solarstromerzeugung weiter konsequent ausgebaut werden." Erdgaskraftwerke würden vor allem ergänzend dafür gebraucht, Spitzenlasten im Netz für kurze Zeit abzudecken – die dafür benötigten Strommengen seien aber letztlich sehr überschaubar. Neue Gaskraftwerke würden deshalb zwar benötigt, sie verbrauchten aber keine großen Gasmengen.

Für Stephan Kohler, Aufsichtsratschef von Zukunft Erdgas, hingegen haben nun Maßnahmen Priorität, die den "Neubau von emissionsarmen Kraftwerken anreizen". Er meint damit eine stärkere Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung und einen "qualifizierten Kapazitätsmarkt" – was letztlich auf die Subventionierung von Gaskraftwerken hinauslaufen würde, die als Gelegenheitsarbeiter der Energiewende schnell einspringen können, wenn es künftig mit dem Stromaufkommen wegen der schwankenden Erzeugung der Wind- und Solarkraftanlagen knapp wird. Dieser Job ließe sich aber auch von Pump-, Batterie- und anderen Speicher erledigen, die mit erneuerbarem Strom gespeist werden. Hinzukommen können Wasserstoff und synthetisches Gas, die mittels Öko-Elektrizität erzeugt werden.

Da lassen sich Kämpfe um Marktanteile, ein Gerangel um staatliche Unterstützung und die Gunst der Politiker erahnen. Wobei insbesondere das russische Erdgas den Vorteil hat, preiswert zu sein – es kostet derzeit nur etwa ein Fünftel des synthetischen grünen Methans und ist gut 25 Prozent billiger als LNG. Die Preise könnten durch eine Angebotsschwemme noch weiter gedrückt werden. So macht denn auch die Nord Stream 2 AG, die die gleichnamige Pipeline baut, in einem Hintergrundpapier darauf aufmerksam, dass die neue Rohrleitung schon im Jahr 2020 die Rechnung für Gasimporte um bis zu 5,8 Milliarden Euro entlasten könnte.

Die Zukunft des Heizens

Wie halten wir es mit dem Erdgas? Diese Frage stellt sich noch viel vehementer für den Wärmemarkt. Dorthin strömt mehr als 70 Prozent des Erdgases in Deutschland. Hier gibt es ein riesiges Dekarbonisierungspotenzial.

Laut Bundesverband der Deutschen Heizungsindustrie (BDH) sorgen derzeit noch zwölf Millionen veraltete, mit fossilen Brennstoffen befeuerte Heizungen für ein wohltemperiertes Klima in Wohnstuben. Und bei der Substitution durch moderne Kessel und Brenner wird überwiegend auf Erdgas gesetzt. Der Grund ist simpel: Je älter das Gebäude und je weniger es gedämmt ist, umso größer muss beispielsweise eine elektrische Wärmepumpe dimensioniert sein. Wird sie dann auch noch mit Photovoltaik auf dem Dach und einer Batterie im Keller kombiniert, liegen die Kosten für das System bei einem älteren Einfamilienhaus mehr als doppelt so hoch wie für eine moderne Gasheizung.

Bemerkenswert aber ist, dass auch bei Neubauten das gute alte Methan als Wärmequelle erste Wahl ist – obwohl dicke Dämmplatten auf den Außenwänden den Einsatz von Wärmepumpen naheliegend machen. Der BDH hat die Bekanntgabe seiner Jahreszahlen für 2018 daher mit der lakonisch-resignativen Zeile "Wärmewende? Fehlanzeige" überschrieben. Bei den im vorigen Jahr neu installierten Anlagen hatten diejenigen, die mit den fossilen Energieträgern Öl und Gas arbeiten, einen Marktanteil von 85 Prozent. Wärmepumpen, die potenziell klimafreundliche Alternative, kamen auf magere 11,5 Prozent.

Wärmewende kommt kaum voran

BDH-Präsident Uwe Glock macht überdies darauf aufmerksam, dass das Tempo beim Austausch eher ein gemächliches ist. Nur 600.000 neue Anlagen seien 2018 in die Bestandssanierung gegangen, was in etwa den Erneuerungsraten der Vorjahre entspricht. Das heißt erstens: Allein der Austausch von Uralt-Brennern
würde sich noch fast bis ins Jahr 2040 hinziehen und überhaupt nicht zu den Klimazielen passen.

Es stellt sich zweitens eine noch viel dringendere Frage: Wie soll die Transformation auf erneuerbare Wärme in Gebäuden funktionieren? Die ganze Dimension der Wärmewende und des damit eng verknüpften Erdgasausstiegs wird erst erkennbar, wenn man in den Blick nimmt, dass es hierbei um einen jährlichen Endenergiebedarf von derzeit insgesamt rund 1.330 Terawattstunden geht (Strom macht insgesamt nur 520 Terawattstunden aus). Zu Raumwärme und Warmwasser kommt noch die Prozesswärme der Industrie hinzu. Etwa 45 Prozent davon wird derzeit mit Erdgas abgedeckt.

Klar ist, ein Verzicht auf diesen Energieträger wird ganz bestimmt kein Selbstläufer. "Die Bundesregierung muss einen verbindlichen Ausstiegspfad für fossile Gase vorgeben, damit Fehlinvestitionen vermieden werden", fordert Verlinden. Doch davon ist bisher nichts zu sehen.

Das Wärme-Mosaik

Klar ist aber, dass es sich bei Gasausstieg und Wärmewende um ein großes Mosaik aus vielen Steinchen handeln muss. Der wichtigste Faktor ist dabei Energieeffizienz. So hat die Agentur für Erneuerbare Energien (AEE) im Auftrag der Grünen-Bundestagsfraktion in einer Metastudie herausdestilliert, dass der Endenergiebedarf von den gut 1.300 Terawattstunden auf 740 Terawattstunden zu drücken ist, durch bessere Dämmung, Fenster mit dickem Glas, effiziente Heizanlagen und optimierte Prozesse an allen Ecken und Enden in Fabriken, bei Handel und Gewerbe. Zahlreiche Expertisen haben nachgewiesen, dass die Industrie ihren Energiebedarf um rund 30 Prozent reduzieren kann.

Wärme, die mit Strom gewonnen wird, hat ebenfalls das Zeug dazu, ein wichtiger Baustein der neuen Wärmewelt zu werden, der etwa ein Viertel des Bedarfs decken kann. Für Raumwärme und Warmwasser sollten effiziente Techniken wie die besagten Wärmepumpen die erste Wahl sein, heißt es in dem Papier der AEE. Zudem liegt eine Kopplung der Erzeugung von erneuerbarem Strom mit der Wärmeproduktion nahe. Denn mit dem Ausbau von Wind- und Sonnenenergie wird die Menge kurzfristig überschüssigen Stroms immer größer. Dieser kann nach dem Tauchsiederprinzip genutzt werden, um warmes Wasser zu erzeugen, das dann in Wärmenetze und Wärmespeicher (überdimensionierte Thermoskannen) geleitet wird.

Das zweite Viertel kann durch Bioenergie – vor allem Holz in verschiedenen Varianten – gedeckt werden, das bevorzugt in Anlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung einsetzbar ist: So lässt sich relativ umstandslos eine große Menge Gas bei der industriellen Prozesswärme ersetzen. Die bislang wenig erschlossenen Potenziale der Abwärme und Umgebungswärme, der oberflächennahen und der Tiefengeothermie sowie die Solarthermie kommen hinzu.

Die Metastudie sieht schließlich einen Anteil von fünf Prozent für die Wärmeversorgung bei erneuerbaren Gasen. Die Umwandlung von Grünstrom durch Elektrolyse in Wasserstoff und dessen Weiterverarbeitung in synthetisches Methan ist enorm aufwendig. Da es aber die bislang einzige bekannte Technologie darstellt, um erneuerbare Energie über einen längeren Zeitraum zu speichern, liegt es nahe, in einer dekarbonisierten Energiewelt Öko-Wasserstoff und -Gas für die berüchtigten Dunkelflauten zu reservieren und in unterirdischen Kavernen zu lagern – dort schlummern derzeit noch die deutschen Erdgas-Reserven. Ein gewisser Teil wird aber auch für Hochtemperaturprozesse in der Industrie be-nötigt, etwa bei der Erzeugung von Stahl oder Porzellan.

"Eine CO2-Steuer liegt auf der Hand"

Und wie lässt sich das alles umsetzen? Die Politik ist gefordert – massive und mutmaßlich auch unpopuläre Interventionen wären für einen Erdgasausstieg nötig, die ein noch ganz anderes Kaliber als die Beschlüsse zum Kohleausstieg hätten.

Es wird vielfach von Experten empfohlen, Förderprogramme für mehr Energieeffizienz in Unternehmen zum Bestandteil des Werkzeugkastens für die Wärmewende zu machen. Für Felix Matthes vom Öko-Institut steht zudem fest, dass fossile Energien – und damit auch Erdgas – teurer gemacht werden müssen. "Die Einführung einer CO2-Steuer liegt da auf der Hand", betont er.

Das müsse aber durch Steuererleichterungen ergänzt werden, etwa für Hausbesitzer, die ihre Heizanlagen erneuern. Schon in den 1980er Jahren gab es großzügige Möglichkeiten, Kosten für Wohnhaussanierungen beim Finanzamt steuermindernd geltend zu machen. Dies führte dazu, dass neue Doppelglasfenster in kurzer Zeit flächendeckend in Deutschland eingebaut wurden.

Heizungsbauer-Präsident Glock dürften diese Vorschläge gefallen. Er fordert, dass die Politik endlich Anreize setzt, "um das reichlich vorhandene private Kapital für den Klimaschutz zu mobilisieren". Die Autoren der AEE-Metastudie machen sich dafür stark, veraltete Heizungen nicht einfach nur auszutauschen, sondern die Nutzung von erneuerbarer Wärme in Neubauten und im Gebäudebestand vorzuschreiben. Das bedeutet, fossile Brennstoffe für Heizungen früher oder später zu verbieten. Der große Verlierer wäre ... Erdgas.

Das sieht die Gaswirtschaft naturgemäß anders: "Haushalte, Industrie, Gewerbe und Handwerk sind vertraut im Umgang mit dem Energieträger Gas", heißt es in einem Hintergrundpapier des BDEW. "Eine pauschale Gasverbotsdiskussion zerstört dieses Vertrauen, nimmt den Akteuren die Selbstbestimmung und blockiert den Weg von Gas als wichtiger Option in eine dekarbonisierte Welt."

Lässt sich ein Kompromiss finden? Als erster Schritt, um das Feld abzustecken, wollte die Bundesregierung eigentlich analog zum Kohleausstieg eine Experten-Kommission zur "Zukunft der Gebäude" einsetzen. Doch der Plan wurde Ende Februar überraschend fallen gelassen, was allenthalben Irritationen auslöste. Die Abkehr von der Gebäudekommission enthebe die Bundesregierung nicht der Verantwortung, Lösungen für den Klimaschutz im Gebäudesektor vorzulegen, mahnte etwa Holger Lösch vom Bundesverband der Deutschen Industrie. Würde die Bundesregierung ihre Klimaziele ernst nehmen, "müsste Deutschland seine Gebäude ab sofort annähernd doppelt so schnell sanieren wie heute".

* Korrektur am 16. April: Die Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen hat nach Eingang des Artikels den Wert auf minus 1,6 Prozent korrigiert. Wie sich der große Unterschied erklärt, ist aus der Veröffentlichung zunächst nicht erkennbar.