Porträtaufnahme von Valérie Lange.
Valérie Lange ist Politikexpertin bei der Ökoenergie­genossenschaft Green Planet Energy. (Foto: Christine Lutz/​GPE)

Der jüngste IPCC-Bericht macht deutlich: Eine katastrophale Klimaerhitzung ist nur mit einschneidenden Maßnahmen noch zu verhindern – und mit einem intelligenten Zusammenspiel aus Erneuerbaren-Technologien und politischen Instrumenten. Doch auch in Deutschland sieht die Realität leider noch anders aus.

2022 hat die Bundesregierung mehrere Kohlekraftwerke, die eigentlich für die endgültige Stilllegung vorgesehen waren, zur Stromproduktion aus der Reserve zurückgeholt. Und die dadurch entstandenen Mehremissionen an Kohlendioxid werden bislang nicht vollständig durch andere Maßnahmen kompensiert, zeigte jüngst eine Untersuchung im Auftrag der Ökoenergiegenossenschaft Green Planet Energy.

Warum und wie die Bundesregierung jetzt schnell handeln muss, erklärt Valérie Lange, Politikreferentin bei Green Planet Energy, hier im Interview.

Frau Lange, die von Ihnen betreute Studie beziffert die CO2-Emissionen, die Deutschland 2022 zusätzlich ausstieß, weil statt fossilem Gas mehr Kohle verbrannt wurde, auf 15,8 Millionen Tonnen. Ist das viel oder wenig?

Valérie Lange: Die Menge entspricht in etwa dem, was die gesamte Hansestadt Hamburg mit ihrem Hafen, dem Flugverkehr und der ansässigen Industrie pro Jahr vor der Corona-Pandemie ausgestoßen hat. Das ist eine beachtliche Zahl, auch wenn die Treibhausgasemissionen 2022 für ganz Deutschland insgesamt mit 746 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent natürlich wesentlich höher sind.

Deutschlands Klimaschutzziel für das Jahr 2022 war eine Reduktion der Emissionen auf 756 Millionen Tonnen – das haben wir also knapp geschafft, wenn auch nur, weil die Industrieproduktion wegen des Krieges in der Ukraine und hoher Energiepreise zurückgegangen war.

Innerhalb der EU sollen die CO2-Emissionen durch die stetige Verknappung von Emissionszertifikaten sinken. Wie funktioniert dieser Mechanismus?

In der Europäischen Union werden die Emissionen der Energiewirtschaft und besonders energieintensiver Industrien über das Europäische Emissionshandelssystem EU ETS geregelt. Wer zum Beispiel in einem Kraftwerk Kohle oder Gas verbrennt, der muss die ausgestoßenen Treibhausgase mit der entsprechenden Menge von Zertifikaten kompensieren.

Der CO2-Preis bildet sich je nach Angebot und Nachfrage nach diesen Zertifikaten am Markt. Das Angebot an Zertifikaten wird im Laufe der Zeit reduziert, damit der Preis steigt und Investitionen in klimafreundlichere Technologien attraktiv werden.

Das war der Plan. Aber die ökologischen Folgen sind hier immer noch nicht wirklich realistisch eingepreist, oder?

Ja, leider. In den ersten Jahren wurden die Zertifikate zu Spottpreisen angeboten oder gleich verschenkt. Auch heute noch werden kostenlose Zertifikate an exportorientierte Branchen wie die Chemie- oder Stahlindustrie ausgegeben. Das Argument dafür: So blieben sie konkurrenzfähig im Weltmarkt.

Dampfende Kühltürme der Blöcke eines Kohlekraftwerks im Rheinland und ein einzelnes Windrad.
CO₂-Emissionsrechte von Kraftwerken, die vom Netz gegangen sind, müssen vom Markt genommen werden. (Foto: S. Hermann/​F. Richter/​Pixabay)

Im Februar überstieg der Preis für eine Tonne CO2 erstmals die 100-Euro-Marke. Laut Umweltbundesamt müsste der Preis allerdings bei mindestens 180 Euro liegen, um die Folgekosten der klimaschädlichen Emissionen zu kompensieren. Der Preis ist also immer noch viel zu niedrig.

Um den Emissionshandelsmarkt zu stabilisieren und den Preis pro Zertifikat schrittweise im Sinne von Klima- und Umweltschutz zu erhöhen, wird die Menge der verfügbaren Zertifikate von der EU überwacht und regelmäßig verringert. Überschüssige Zertifikate kommen in einen "Reservebehälter", die sogenannte Marktstabilitätsreserve. Und die soll im kommenden Mai zum Teil geleert werden, weil sich sehr viele überzählige Zertifikate angesammelt haben, die jetzt gelöscht werden sollen – und dann in Zukunft nicht mehr zur Verfügung stehen.

Jetzt sind die deutschen Kohlekraftwerke mehr gelaufen als geplant. Welche Auswirkungen hat das auf den Emissionshandel?

Für die 15,8 Millionen Tonnen Mehremissionen haben die Kraftwerksbetreiber am Markt CO2-Zertifikate gekauft. Dadurch verringert sich der Überschuss auf dem Zertifikatsmarkt. Entsprechend fließen weniger Zertifikate in die Marktstabilitätsreserve, sie können mit dem Korrekturschritt im Mai also auch nicht gelöscht werden.

Das Problem ist also, dass durch die Kohle-Mehremissionen die geplante Verknappung der Zertifikate geringer ausfällt als ursprünglich gedacht?

Genau. Die Löschung der Zertifikate im Mai soll die Emissionsrechte insgesamt verringern – bringt also echten Klimaschutz! Dabei gilt der Grundsatz: Je größer der Zertifikate-Überschuss für das Jahr 2022, der in die Marktstabilitätsreserve überführt werden kann, desto mehr Zertifikate werden gelöscht.

Durch die CO2-Emissionen aus der zusätzlichen deutschen Kohleverstromung reduziert sich der Überschuss am Markt aber um eben diese 15,8 Millionen Tonnen. Wir appellieren deshalb an die Politik, dass die Zertifikate für diese Mehremissionen durch den krisenbedingten Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken gelöscht werden.

In den Debatten um die Reduktion der CO2-Emissionen aus Kohle wird oft vom "Wasserbetteffekt" gesprochen: Spart ein europäischer Staat Emissionen ein, können andere dafür mehr emittieren.

Wenn durch erfolgreiche Klimaschutzmaßnahmen frei gewordene Zertifikate nicht konsequent gelöscht werden, lassen sie sich an andere Emittenten übertragen. Damit ist dem Klima natürlich nicht gedient, und das ist auch einer der Gründe für den Zertifikatsüberschuss und die niedrigen Preise.

2018 wurde das Emissionshandelssystem endlich reformiert und der Korrekturschritt eingeführt: Überschüssige Zertifikate werden ab 2023 entweder automatisch gelöscht oder bei Kraftwerksstilllegungen von den jeweiligen EU-Mitgliedsstaaten gelöscht.

Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz hätte der EU bis Ende 2022 melden müssen, welche Kraftwerke im Jahr 2021 vom Netz gegangen sind, damit deren Zertifikate gelöscht werden. Das ist aber nicht geschehen.

Genau, die Zertifikate sind weiter im Umlauf. Sie müssen dem Markt nun möglichst schnell entzogen werden. Das Ministerium hat – auch auf unseren politischen Druck hin – bereits angekündigt, das Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz zu überarbeiten und so eine Löschung der frei gewordenen Zertifikate zu ermöglichen.

Dabei geht es auch um viel Geld. Denn für die Stilllegung der Kohlekraftwerke hatte die Bundesregierung deren Betreibern im Jahr 2021 Entschädigungen in Höhe von 800 Millionen Euro gezahlt. Das Geld wäre ja ohne positiven Klimaschutzeffekt durch sinkende CO2-Emissionen schlicht verschenkt, wenn die Zertifikate nicht aus dem Verkehr gezogen werden.

Auch hier wäre also die Lösung: Zertifikate verknappen ...

Der europäische Emissionshandel ist das zentrale Klimaschutzinstrument auf EU-Ebene, um die allerschlimmsten Folgen des Treibhauseffektes etwas abzumildern. Effektiv ist er aber nur, wenn kein dauerhaftes Überangebot an Emissionszertifikaten besteht. Das muss gewährleistet sein, damit das System überhaupt einen spürbaren Effekt hat.

Ist das der Ausweg aus der fossilen Energie- und Klimakrise?

Um das Klima zu schützen, brauchen wir mehr als den europäischen Zertifikatehandel. Der neueste IPCC-Bericht warnt uns eindringlich: Die aktuellen Klimaziele sind zu schwach, denn selbst bei ihrer Erreichung wird sich das Weltklima um 2,8 Grad erhitzen. Es liegt in unseren Händen, denn laut IPCC sind die Maßnahmen, die wir bis 2030 umsetzen, entscheidend.

Valérie Lange

hat Internationale und Europäische Governance studiert und war bei der Ökoenergiegenossenschaft Green Planet Energy zunächst Werkstudentin im Bereich Politik und Kommunikation. Seit 2021 ist sie Referentin für Energiepolitik und arbeitet zu den Themen Kohle- und Atomausstieg, grüner Wasserstoff und Bürgerenergie.

Wenn wir die drohenden katastrophalen Folgen der Klimakrise verhindern und so unsere Lebensgrundlagen schützen wollen, müssen wir uns anspruchsvollere Ziele setzen, die CO2-Emissionen drastisch senken und dringend die Erneuerbaren im "Deutschland-Tempo" ausbauen, das beim Aufbau der Flüssiggas-Infrastruktur an den Tag gelegt wurde.

Gleichzeitig müssen wir mit der Energie, die uns zur Verfügung steht, bewusster und sparsamer umgehen: Denn am effizientesten ist unser Umgang mit Energie, wenn wir möglichst wenig davon verbrauchen.

Dieser Beitrag wurde nicht von der Redaktion erstellt. Er ist in Kooperation mit der Green Planet Energy e.G. in der Rubrik Advertorials erschienen.