Ob die Umweltbewegung ahnte oder gar wusste, dass in Brüssel über die ostdeutsche Braunkohle gestritten werden würde? Unweit des Braunkohletagebaus Welzow in Brandenburg gingen am Sonntag mehr als tausend Menschen auf die Straße, um einen beschleunigten Kohleausstieg und einen gerechten Strukturwandel für die Lausitz zu fordern.

Organisiert hatte die Demo ein Aktionsbündnis aus Fridays for Future, BUND, Greenpeace und lokalen Initiativen wie der Umweltgruppe Cottbus und der sorbischen Volksvertretung Serbski Sejm. Die konkrete Forderung: Die Kohleförderung in der Lausitz soll auf maximal 205 Millionen Tonnen ab Januar 2022 begrenzt werden, um die Einhaltung des 1,5‑Grad-Limits nicht zu gefährden.

 

Die Kohle-Obergrenze hatte eine Forschungsgruppe der Europa-Universität Flensburg in einer kürzlich veröffentlichten Studie ermittelt. Im vergangenen Jahr, einem recht guten Förderjahr, förderten die vier Lausitzer Tagebaue des Betreibers Leag, mehr als 47 Millionen Tonnen. Ginge das so weiter, wäre das anteilige 1,5‑Grad-Budget spätestens 2029 aufgebraucht – noch vor dem ohnehin umstrittenen Ausstiegstermin 2030.

Über den Kohleausstieg würden Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und die Ministerpräsidenten der drei Ost-Kohleländer derzeit "hinter verschlossenen Türen" verhandeln, kritisierte Ladina Soubeyrand von Fridays for Future Senftenberg am Sonntag. "Schon jetzt ist klar, dass die Kohle durch den steigenden CO2-Preis spätestens ab 2030 nicht mehr rentabel sein wird – an einem früheren Kohleausstieg führt also kein Weg vorbei."

Deutlich verschlechterte Lage für die Leag 

Hinter verschlossenen Türen verhandelten gestern Abend auch die zuständigen Staatssekretäre vom Bund und den Kohle-Ländern mit der EU-Kommission in Brüssel. Es ging um die endgültige Einigung, wie hoch der Stromkonzern Leag wegen des im Kohlebeendigungsgesetz festgelegten Ausstiegsjahres 2038 entschädigt wird. Offiziell soll die Summe wegen entgangener Gewinne fließen, weil die Leag Tagebaue und Kraftwerke etwa ein Jahrzehnt länger betreiben wollte.

Die große Koalition und die Leag mit ihrem Eigentümer EPH hatten sich hier im Mai 2021 auf 1,75 Milliarden Euro geeinigt. Das wurde mit dicken Studien und komplizierten Formeln begründet – in der Folge wurde aber festgelegt, dass die 1,75 Milliarden über sogenannte Zweckgesellschaften mehr oder weniger vollständig in die Braunkohlesanierung fließen sollen.

Auf diese Gelder hätten dann die Ost-Kohleländer einen sicheren Zugriff gehabt. Zusammen mit den Sanierungsgeldern der Leag bestand so die Hoffnung, wenigstens zwei bis drei Milliarden für die Braunkohlesanierung in der Hand zu haben.

Angesichts der derzeit nicht bezifferbaren Ewigkeitskosten der Braunkohle meinen Kenner der Szene: Selbst die 1,75 Milliarden sind viel zu wenig. Dass die EU-Kommission selbst diese Summe am Ende aber beihilferechtlich genehmigen wird, ist dennoch sehr unwahrscheinlich.

Denn die Sanierungskosten interessieren die Kommission eigentlich gar nicht – bei der beihilferechtlichen Prüfung muss sie sich an die offizielle Begründung bezüglich entgangener Gewinne halten. Und hier hat sich die Lage für die Leag in den letzten zwei Jahren deutlich verschlechtert.

Dass Braunkohlestrom spätestens ab 2030 nicht mehr rentabel ist, nehmen heute nicht nur Klimaaktivistinnen an, sondern praktisch alle – Forschungsinstitute, Landesregierungen und vermutlich auch die Leag selbst. Da "entgehen" dem Unternehmen bis 2038 dann aber auch keine Gewinne mehr, die zu entschädigen wären. Diese Position einzunehmen, liege für die EU nahe, ist zu hören.

Der Klimawandel verschiebt die Proportionen

Ein EU-Beschluss, der für die Leag nach 2030 keine entgangenen Gewinne mehr berücksichtigt, dürfte die Braunkohle-Krise im Osten weiter verschärfen. Formell, laut Bergrecht, müsste die Leag eigentlich die gesamten Sanierungskosten allein tragen. Doch aus dieser Verantwortung wurde sie von den fürs Bergrecht zuständigen Ländern bereits entlassen.

Ihren Anteil aufzustocken, wenn die EU weniger Entschädigung genehmigt, wird die Leag ablehnen. Das Unternehmen wollte sogar nach eigenen Angaben einen Teil der 1,75 Milliarden Euro für den Bau seiner "Gigawattfactory" mit 7.000 Megawatt Wind- und Solarparks verwenden.

Angesichts der klammen Kassenlage des Bundes wird das Problem wohl zunächst den Ost-Kohleländern auf den Tisch geschoben werden. Besonders betroffen sind das Land Brandenburg und der Freistaat Sachsen. Mit der Kompetenzverlagerung kann aber nur Zeit gewonnen werden.

Am Ende muss es mit der Leag eine Einigung geben, ähnlich dem RWE-Deal für den Ausstieg bis 2030 im Rheinland – mit dem Unterschied, dass Habeck dies nicht erneut hinter verschlossenen Türen aushandeln kann. Und für die Braunkohle-Sanierung, die noch länger als ein Jahrhundert dauern wird, bietet sich die jüngste Idee der Grünen an, eine Ost-Stiftung zu gründen.

Unbestimmt ist bisher auch, wie die Leag-Eigentümerin EPH und ihr maßgeblicher Besitzer, der tschechische Milliardär Daniel Křetínský, reagieren werden, wenn die EU die Schatulle kleiner macht. Ist Křetínský bereit, der Leag mit den nötigen Milliarden auszuhelfen, die jetzt nicht als Entschädigung kommen, oder trennt er das Projekt Gigawattfactory vom alten Kohlebergbau und schickt diesen in die Insolvenz?

Das Bundeswirtschaftsministerium teilte auf Anfrage von Klimareporter° lediglich mit, es habe gestern einen konstruktiven Austausch mit der EU-Kommission gegeben. "Das Beihilfeverfahren ist noch nicht abgeschlossen", betonte eine Sprecherin. Das Ministerium entscheide jetzt über die nächsten Schritte und stimme sich dabei weiter eng mit den Ländern ab.

Der Klimawandel verschiebt übrigens auch hier die Proportionen. Die Braunkohlesanierung wird nicht nur länger dauern als gedacht und entwickelt sich zu einer Jahrhundertaufgabe, auch der Aufwand, die Finanzen dafür aufzubringen, steigt.

Ein Thema bei der Demo am Tagebau waren die Probleme mit dem Wasserhaushalt in der Region. Dass die Leag als sogenannte Folgelandschaft für den Tagebau auch in Welzow einen riesigen Tagebausee plant, lehnt die Stadtverordnete Hannelore Wodtke ab. "Es ist unverantwortlich, mitten in der Klimakrise riesige Verdunstungsflächen zu schaffen, nur weil große Seen die billigste Art der Rekultivierung für die Braunkohleunternehmen sind."

Übrigens: Beim Wasserproblem gibt es wenigstens eine offizielle Zahl, was seine Lösung aus heutiger Sicht kosten würde: um die zehn Milliarden Euro.

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