Ein Autokran hebt Platten zur Energiesanierung zur Montage an einem Haus.
Serielle Sanierung von Mehrfamilienhäusern: Klimaschutz geht schneller, sagt die Dena, aber nicht so schnell wie in der Fridays-Studie. (Foto: Fabrice Singevin/​ICF Habitat/​Energiesprong/​Flickr)

Klimareporter°: Herr Kuhlmann, die Studie des von Fridays for Future beauftragten Wuppertal-Instituts zitiert auch Ihre Dena-Leitstudie von 2018: Sie hielten vor zwei Jahren einen jährlichen Zubau erneuerbarer Energien von bis zu 10.000 Megawatt für nötig, um 2050 eine 95-prozentige CO2-Reduktion zu erreichen.

Wuppertal rechnet jetzt mit jährlich 15.000 Megawatt, um bis 2035 klimaneutral zu werden. Seit 2018 sind schon wieder zwei Jahre ins Land gegangen, in denen der Ausbau vor allem bei der Windkraft zurückging. Wir müssen hier also beschleunigen – wo ist da Ihr Problem an den Wuppertal-Zahlen?

Andreas Kuhlmann: Der Unterschied ist schon noch sehr groß. Die Wuppertal-Studie geht ja eigentlich von einem Zubau von jährlich 25.000 bis 35.000, teilweise sogar bis 40.000 Megawatt aus. Nur in einem Extremszenario genügt laut Studie der Ausbau um 15.000 Megawatt jährlich – wenn zugleich unglaublich viel Wasserstoff zur Verfügung stünde.

Dass immer mehr Ökoenergie-Zubau in immer kürzerer Zeit notwendig ist, zeigt doch nur, dass wir bei der Energiewende unter immer stärkerem Zeitdruck stehen – oder?

Dass das so ist, ist doch jedem klar. Für die Energiewende müssen wir mehr machen, als wir das gegenwärtig tun. Die Bundesregierung hat ja mittlerweile auch eingeräumt, dass es bei der Energiewende zu Versäumnissen gekommen ist.

Sie kritisieren besonders, dass Fridays for Future nun von einer "Machbarkeitsstudie" spricht, die das Wuppertal-Institut vorgelegt hat. Was ist denn für Sie in der Energiewende "machbar"?

Den "Fridays" mache ich gar keinen Vorwurf, dass sie die Studie so bewerten. Für mich ist auch das Wuppertal-Institut eins der besten Institute, die wir in Deutschland haben. Davon bin ich überzeugt.

Bei dieser Studie aber haben sich die Autoren am Ende nicht so richtig getraut, eine ehrliche Einschätzung abzugeben. Sie sagen in ihrem Fazit, ihre Vorschläge seien im Grunde umsetzbar – ich kann mir aber vorstellen, dass jede und jeder im Wuppertal-Institut weiß, dass das so nicht stimmt. Das ist leider die traurige Wahrheit.

Porträtaufnahme von Andreas Kuhlmann.
Foto: Thomas Köhler/​Photothek

Andreas Kuhlmann

leitet seit 2015 die Deutsche Energie-Agentur GmbH (Dena). Kuhlmann studierte in Heidelberg, Bonn und Corvallis (USA) Physik mit dem Nebenfach Volks­wirtschaft. Unter anderem war er im EU‑Parlament, bei der SPD, im Bundestag sowie im Bundes­arbeits­ministerium tätig, bevor er 2010 zum Bundes­verband der Energie- und Wasser­wirtschaft (BDEW) wechselte und sich dort mit strategischen Fragen befasste.

Es gibt aber noch einen Aspekt: Wir schauen aufs Heute und auf die Technologien, die wir meinen zur Verfügung zu haben. Und mit dem Wissen und den Mitteln, die wir heute haben, versuchen wir alles so weit zu dehnen, dass es irgendwie rechnerisch mit einem Modell klappt.

Und dann stellen wir aber fest: Oh, aus dem Modell ergeben sich so viele Probleme mit der Veränderungsdynamik materieller und immaterieller Bestände, dass die Umsetzung in der Realität schwierig wird.

Wir sollten nicht vergessen: Auf der Strecke wird es in den nächsten Jahren mit Sicherheit weitere Perspektiven und Entwicklungen geben. Das Neue, das noch vor uns liegt, wird, wie ich glaube, einen ganz gehörigen Beitrag für unsere Ziele bei Energiewende und Klimaschutz leisten. Das lässt sich bloß schlecht in ein Modell einarbeiten.

Tatsache ist ja: Wir erleben derzeit Dynamiken, die wir vor Jahren so nicht voraussahen. Beispiel Kohleausstieg. Wer hätte vor drei, vier Jahren vermutet, dass ein CO2-Preis von 25 Euro im Emissionshandel die Kohle so aus dem Markt kegelt? Oder nehmen wir den Solarstrom vom Dach. Dort wäre jetzt ein solarer Rollout in Deutschland möglich.

Aber beide Dynamiken werden nicht genutzt, sondern gebremst – einmal durch den Kohleausstieg erst 2038, das andere Mal durch das geplante EEG 2021, die jüngste Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes.

Bezüglich der beiden Beispiele würde ich einen Unterschied machen: Bei der Kohle sehen wir die Dynamik nicht, beim Solarstrom nutzen wir sie nicht.

Was ist bei der Kohle passiert? Durch unsere gute Gasinfrastruktur im inländischen Markt und die CO2-Preise sinkt in den letzten fünf Jahren die Verstromung von Kohle um 50 Prozent. Das wird der Stand Ende 2020 sein. Das ist spektakulär, und es ärgert mich ein wenig, dass das so wenig positiv gesehen wird. Alle streiten über installierte Leistungen, sehen aber nicht die wirklich erzeugten Strommengen.

Bei der Solarenergie gebe ich Ihnen recht. Dass es da nicht vorangeht, liegt stark an den regulatorischen Bedingungen. Da wünsche ich mir mehr Mut und dass mehr Räume für eine dezentrale Entwicklung geschaffen werden.

Vor fünf Jahren hat auch noch kaum jemand über Wasserstoff gesprochen. Im Gegenteil, wir haben für unsere Aussagen dazu oft Ärger bekommen. Heute dagegen sprechen alle – von Agora Energiewende übers Wuppertal-Institut bis hin zum Umweltbundesamt – davon, dass wir Unmengen an grünem Wasserstoff brauchen werden. Und jetzt entsteht hier ein Markt, der vor drei Jahren noch nicht gesehen wurde.

Andererseits: Ließe man diesen Dynamiken freien Lauf, würde es vermutlich zu großen Strukturbrüchen kommen, die weder wirtschaftlich noch sozial zu bewältigen wären.

Absolut. Das ist ein Signal dafür, dass es möglicherweise nicht so schnell geht, wie wir uns das wünschen.

Allerdings gehe ich beispielsweise davon aus, dass sich der Wasserstoff deutlich schneller entwickeln wird, als das viele jetzt meinen. Das haben wir bei der Solarenergie erlebt und erleben es jetzt bei der Elektromobilität. Und wir werden das auch beim Wasserstoff sehen.

Bloß darauf ausruhen dürfen wir uns nicht. Viele denken jetzt, Wasserstoff ist ein Joker, der alle Probleme löst, aber das ist er nun auch nicht.

Für die Energiewende brauchen wir einen passenden politischen Rahmen, aber wir brauchen auch Innovationen. Ein Beispiel: In der Wuppertal-Studie steht, die jährliche Sanierungsrate für Gebäude müsste quasi sofort von einem auf vier Prozent steigen, aber das ist schlicht unmöglich. Grund dafür sind unter anderem zu wenig Fachkräfte, zu großer Ressourcenbedarf – Einschränkungen, die sich nicht über Nacht beheben lassen.

Was möglich ist, ist die Entwicklung neuer Techniken wie die serielle Sanierung. Mit der bekommen wir in den nächsten Jahren Schwung in die Wärmewende. Auch das ist ein Beispiel für eine Entwicklung, die vor ein paar Jahren noch niemand auf dem Schirm hatte.

Und noch ein weiteres Beispiel: Stellen Sie sich vor, Joe Biden gewinnt die US-Wahl. Dann würden mit der EU, China und den USA plötzlich die drei größten Märkte ähnliche Klimaziele verfolgen. Es böte sich die Gelegenheit für ein Gipfeltreffen, auf dem Probleme diskutiert werden und Annäherung stattfinden könnte – und das den Klimaschutz beflügelt.

Das sind Entwicklungen und Ereignisse, die in keiner Studie einberechnet werden können. Für mich wäre es ehrlicher gewesen zu sagen: Leute, wir haben in der Studie die heute technisch verfügbaren Dinge aufgeschrieben. Aber damit wird das angestrebte Ziel nicht realisierbar sein. Deswegen müssen wir bereit sein, ins Offene zu gehen, auf das Moment der Neuerungen zu setzen.

Diese Offenheit für das Neue müssen wir im Prozess der Energiewende zum Thema machen und darauf vertrauen, dass der Pariser Klimavertrag die Grundlage für dieses gemeinsame Vertrauen ist und dass wir das mit dem Klimaschutz schaffen. Nur so entsteht die Dynamik, die wir benötigen.

Dass wir bei Energiewende und Klimaschutz jetzt so eine Dynamik erleben, ist doch aber ein Verdienst der Klimabewegung und gerade von Fridays for Future.

Auf jeden Fall! Aber die Klimabewegung ist sehr viel breiter, dazu gehört beispielsweise auch die Enzyklika "Laudato Si'" von Papst Franziskus, die mich ebenfalls sehr beeindruckt hat.

Vor 30 Jahren war ich übrigens selbst einmal Teil einer solchen Bewegung und organisierte, als ich an der Uni Heidelberg war, multidisziplinäre Ringvorlesungen zum Klimawandel.

Sind der Studien jetzt nicht langsam genug gewechselt, müssten wir nicht endlich mehr Taten sehen und an den Stellschrauben drehen, mit denen sich eine gewissermaßen kontrollierte Dynamik entfalten lässt?

Dass Studien überflüssig werden, glaube ich nicht. Die Verhältnisse verändern sich eben alle paar Jahre – und zwar zum Guten.

Bei unserer Leitstudie 2018 sind wir, wie andere auch, nicht von einem CO2-Preis von 25 Euro ausgegangen. Den gibt es jetzt aber. Wir sind auch nicht von Wasserstoff-Strategien ausgegangen. Die gibt es jetzt aber. Darauf zu verweisen ist eine Ermutigung für die Politik, damit sie die Entscheidungen, die jetzt anstehen, besser treffen kann.

Auch in dieser Legislaturperiode ist eine Menge passiert. Aber klar: Bei der Solarenergie und vielen anderen Dingen müssen wir mutiger sein. Alles muss beflügelt werden, zum Beispiel PPAs für ausgeförderte Ökostromanlagen, das serielle Sanieren und innovative Verkehrskonzepte.

Beim Wasserstoff ist es jetzt schon wieder schade, dass wir so lange hin und her überlegen, anstatt die Projektideen, die es schon gibt, schnell umzusetzen und daraus zu lernen, wie wir den Markthochlauf gestalten können.

Ergänzung am 1. November: Lesen Sie hier die Entgegnung von Manfred Fischedick vom Wuppertal Institut: "CO2-Neutralität 2035 ist eine dicke und harte Nuss"