Dreistöckige weiße Passivhäuser in der Bahnstadt in Heidelberg.
Viertel mit Modellcharakter: Auf einer 116 Hektar umfassenden Fläche nahe dem Hauptbahnhof ist in Heidelberg die größte Passivhaus-Siedlung der Welt im Entstehen. (Foto: Valentin Bachem/​Flickr)

Der Baumarkt hat die Auflagen geschafft, das Kino mit seinen 15 Sälen ebenso wie die Kindergärten, eine Schule, das Bürgerzentrum, die Feuerwache und ein Wellnesscenter. Allesamt sind die Gebäude des neuen Heidelberger Stadtteils Bahnstadt in Passiv-Bauweise konzipiert. In der Summe ergibt sich daraus die größte Passivhaus-Siedlung der Welt, wie die nordbadische Universitätsstadt stolz verkündet.

Auf der 116 Hektar großen Fläche nahe des Hauptbahnhofs ist der Passivhaus-Standard verbindlich vorgeschrieben. Die Baumarkt-Leitung, so erzählt man in der Stadt, habe anfangs geglaubt, die Verwaltung würde für sie doch wohl eine Ausnahme machen. Aber daraus wurde nichts – solche Ausnahmen gab es nicht.

Nun steht das Gebäude mit seiner 9.800 Quadratmeter großen Verkaufs- und Lagerhalle am Rande des neuen Stadtteils und hält ebenso selbstverständlich den Effizienzstandard ein wie alle anderen Objekte. Sogar die vorgeschriebene Dachbegrünung wurde auf dem Gebäude vorgenommen – was die Baumarktkette nun auch an anderen Standorten realisiert hat.

"Ein Stadtteil mit internationalem Modellcharakter" freut man sich im Rathaus, wo man nachgerechnet hat: Die gebäudebezogenen CO2-Emissionen lägen in der Bahnstadt nur noch bei 0,13 Tonnen pro Person und Jahr – eine Einsparung von rund 94 Prozent gegenüber anderen Gebäuden in Heidelberg. Im Schnitt kommt man in der badischen Kommune, in der rund 160.000 Menschen leben, auf zwei Tonnen pro Person und Jahr.

Passivhaus-Standard auch für Gewerbegebäude

Ein Sprecher von Bürgermeister Eckart Würzner (parteilos) verweist denn auch auf die lange Historie Heidelbergs als Umweltstadt. Man habe sich schon Anfang der 1990er Jahre den Klimaschutz auf die Fahnen geschrieben. Bereits 1997 starteten Stadt und Stadtwerke zusammen ein ambitioniertes Förderprogramm für Solarstrom, das eine kostendeckende Vergütung von bis zu 1,58 Mark je Kilowattstunde gewährte. Bald darauf wurde in Heidelberg mit 300 Kilowatt die größte Gemeinschaftsanlage Deutschlands gebaut. "Stadt der Zukunft" nannte sich Heidelberg schon damals.

Heute, da die Photovoltaik längst etablierte Technik ist, geht es darum, das Bauen neu zu denken. Da das Bahnstadt-Viertel eines der größten Stadtentwicklungsprojekte in ganz Deutschland ist, hatte man dort die Chance, neue Maßstäbe zu setzen. Bis zur Fertigstellung werden rund zwei Milliarden Euro investiert.

Den Passivhaus-Standard verbindlich festzuschreiben sei formal nicht schwierig gewesen, heißt es seitens der Stadtverwaltung. Die Stadt habe das Areal gekauft, auf dem sich früher der Güter- und Rangierbahnhof befand. Nicht ohne die entsprechenden baulichen Verpflichtungen in die Kaufverträge hineinzuschreiben.

Für die Nichtwohngebäude musste man die bautechnischen Details allerdings erst noch definieren. Welche energetischen Kennwerte legt man etwa für einen Baumarkt zugrunde? Dass eine Halle, die so hoch ist wie drei gewöhnliche Stockwerke, nicht anhand der sogenannten Energiebezugsfläche bewertet werden kann, versteht sich von selbst. "Das war natürlich Neuland. Oft ging es um Einzelfallentscheidungen", sagt Robert Persch vom Heidelberger Amt für Umweltschutz. Deshalb sei Pragmatismus beim gesamten Vorgehen unbedingt nötig gewesen.

"Natürlich öffnen wir Fenster, wann wir wollen"

Als grundsätzliches Kriterium eines Passivhauses gilt ein Jahresheizwärmebedarf von maximal 15 Kilowattstunden pro Quadratmeter. Mit dem Energiebilanzierungs- und Planungstool PHPP (Passivhaus-Projektierungs-Paket), das vom Passivhaus Institut in Darmstadt erarbeitet wurde, wird dieser ermittelt.

Der Kennwert gilt auch für Nichtwohngebäude, ebenso wie die Vorgaben zur Luftdichtheit des Gebäudes. Der Luftaustausch pro Stunde durch unkontrollierte Fugen muss beim Test mit einem Unter-/Überdruck von 50 Pascal kleiner sein als das 0,6-Fache des Hausvolumens.

Weil die Einhaltung dieses Wertes zwingend mit einem Differenzdruck-Messverfahren (meistens als Blower-Door-Test bezeichnet) nachgewiesen werden muss, hat der Bauherr zugleich die Sicherheit, dass alle am Bau beteiligten Handwerker präzise Arbeit leisten.

Eine Gebäudehülle, die so luftdicht ist, braucht zwingend eine kontrollierte Be- und Entlüftung. Immer wieder kursiert daher das absurde Gerücht, man könne oder dürfe in Passivhäusern die Fenster nicht öffnen. "Natürlich öffen wir Fenster, wann wir wollen", zitiert das Passivhaus-Institut einen Bewohner der Bahnstadt. Den zur nächtlichen Abkühlung im Hochsommer nötigen Luftwechsel erreiche man sogar am besten mit geöffneten Fenstern, betont das Institut in seiner Wissensdatenbank.

Eine besondere Herausforderung beim Passivhaus ist die Klimatisierung, weil sie ebenfalls möglichst energieeffizient sein muss. In einem vernünftig konzipierten Wohnhaus ist eine Kühlung nicht nötig, Verschattungselemente und nächtliche Durchlüftung vermeiden eine zu starke Überhitzung. In gewerblich genutzten Objekten ist das anders. Wo viel Abwärme entsteht, etwa durch den Betrieb von Servern, kommt man ums Kühlen oft nicht herum. Das Gleiche gilt dort, wo viele Menschen die Raumluft erwärmen, im Kino etwa.

Kino mit Fernwärme gekühlt

Für das Kino in der Heidelberger Bahnstadt haben die Stadt als Baubehörde und die Stadtwerke als Energielieferant eine effiziente Lösung für die Klimatisierung entwickelt, die dem Passivhaus-Gedanken gerecht wird: Gekühlt wird mit Fernwärme. Die Wärme, die im Sommer mit 85 Grad im Gebäude ankommt, wird mit einer Adsorptionskältemaschine zur Erzeugung von Kälte genutzt.

Eine solche sorptionsgestützte Klimaanlage wird nicht mit elektrischer, sondern mit thermischer Energie angetrieben. Eine klassische Kompressionskältemaschine kommt nur noch zur Abdeckung von Spitzenlasten zum Einsatz. "Wir kommen so auf eine Jahresarbeitszahl von sechs", sagt Persch, der zuständige Mitarbeiter im Umweltamt. Das heißt: Aus einem Anteil Strom werden sechs Anteile Kälte gewonnen.

100 Prozent Klimaschutz bis 2050

Heidelberg hatte sich im Jahr 2014 als eine von 19 deutschen Städten als Modellkommune am Förderprogramm "Masterplan 100 % Klimaschutz" des Bundesumweltministeriums beteiligt. Die Stadt will klimaneutral werden, indem sie bis 2050 ihren Energiebedarf um die Hälfte senkt und die CO2-Emissionen um 95 Prozent reduziert.

Die in dem Konzept fixierten "Strategiesäulen" decken das klassische Spektrum des Klimaschutzes ab. Im Wohnungssektor zählt dazu vor allem die Steigerung der Sanierungsrate und der CO2-armen Wärmebereitstellung. Im Verkehr sollen der Autoverkehr reduziert, der Fuß- und Radverkehr sowie der ÖPNV im Gegenzug gestärkt werden. Und die Energieversorgung soll stärker auf erneuerbaren Energien basieren, mit parallelem Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung (KWK).

Ziel ist es, Heidelberg im Jahr 2050 zu 90 Prozent aus erneuerbaren Quellen zu versorgen. Aufgrund der begrenzten Windpotenziale in der Stadt könne aber "nur ein kleinerer Anteil des erneuerbaren Energiebedarfs auf der Heidelberger Gemarkung erzeugt werden", heißt es im Masterplan. Das Ziel lasse sich also "nur durch Einbezug der Stadt-Umland-Beziehung" erreichen. In dieser großräumigeren Betrachtung könnten in Zukunft jährlich 100 Millionen Kilowattstunden aus Biomasse, 60 aus neuen Windkraftanlagen, 90 aus Photovoltaik und 17 aus Wasserkraft erzeugt werden.

Gleichzeitig realisieren die Stadtwerke Heidelberg gerade ein spektakuläres Projekt: einen riesigen Wärmespeicher, "Zukunftsspeicher" genannt. Er soll die Strom- und die Wärmeerzeugung der Heizkraftwerke, von denen es im Raum Heidelberg/Mannheim einige gibt, zeitlich entkoppeln. Wenn das Stromangebot im Netz gerade üppig ist, können die KWK-Anlagen dann weniger Strom und dafür mehr Wärme abgeben. Wird Strom im System wieder knapper, setzen sie stärker auf die Stromerzeugung und reduzieren die Abgabe von Wärme, die nun der Speicher bereitstellt.

Die überdimensionale Thermoskanne verfügt über ein Nutzvolumen von 12.800 Kubikmetern und kann bei Wassertemperaturen von bis zu 115 Grad 660.000 Kilowattstunden Wärme speichern. Mit einer Höhe von 55 Metern wird der Wassertank im Stadtteil Pfaffengrund die Silhouette von Heidelberg prägen – und weil Heidelberg eine Touristenstadt ist, soll oben auf dem Speicher eine Terrasse mit Gastronomiebetrieb eröffnen.

Die Wärmeversorgung des gesamten Stadtteils erfolgt durch das Holz-Heizkraftwerk im Nachbarstadtteil Pfaffengrund. Das dort verwendete Holz stamme aus der Landschaftspflege in der Region, betont die Stadt. Es werde aus einem Umkreis von 50 Kilometern angeliefert.

Für Wohnungsinteressenten stellt sich bei einem solch ambitionierten Vorhaben natürlich die Frage der Kosten. Die Antwort mag überraschen: Die lägen auf Augenhöhe mit den Kosten eines Baus auf Basis der Energieeinsparverordnung (EnEV), sagt Persch.

Wie kann das sein? Der Mitarbeiter des Heidelberger Umweltamts erklärt das mit der kompakteren Bauart. Weil Passivhäuser es nahelegen, die Gebäudehülle in Relation zur Wohnfläche möglichst knapp zu halten, wird eher mal auf Erker und ähnliche Elemente verzichtet. Trotzdem, sagt Persch, gelinge eine "interessante Architektur".

Marktübliche Preise

Vier bis fünf Stockwerke sind die Häuser hoch, manche auch sechs. Sie werden überwiegend von Bauträgern realisiert. Auch einzelne Baugruppen sind auf dem Gelände aktiv, also Bauwillige, die gemeinsam ohne einen Bauträger ein Grundstück kaufen und in Eigenregie bauen. Am Ende werden rund die Hälfte der Wohnungen Eigentumswohnungen sein, die andere Hälfte Mietwohnungen.

Dass die Wohnungen in der Bahnstadt heute für stattliche Preise von zumeist 4.500 bis 5.000 Euro pro Quadratmeter angeboten werden, liegt nicht am Baukonzept, sondern schlicht an der Entwicklung des Immobilienmarkts. Vor sieben Jahren, als die ersten Bewohner einzogen, hätten die Preise noch um 3.000 Euro gelegen, heißt es bei der Stadtverwaltung – bei seither unverändertem Baukonzept. Heidelberg erlebte eben den gleichen Preisanstieg, den alle beliebten Städte in den vergangenen Jahren verzeichneten, seit Investoren sich angesichts der Niedrigzinsen um alle verfügbaren Objekte balgen.

4.200 Menschen sind bislang in dem neuen Heidelberger Stadtteil eingezogen. Im Jahr 2022 sollen es dann insgesamt zwischen 6.500 und 6.800 Menschen sein, die in den 3.700 Wohneinheiten ein neues Zuhause finden. Zudem sollen zwischen 5.000 und 6.000 Arbeitsplätze in dem Stadtteil entstehen. Damit würde die Bahnstadt sogar einen Überhang an Einpendlern haben – es entsteht offenbar ein aktiver Stadtteil in Passiv-Bauweise.

Planer hoffen auf kurze Arbeitswege

Unterdessen haben die Stadtplaner auch die Hoffnung, dass möglichst viele Menschen in ihrer direkten Umgebung arbeiten werden. Als "Stadt der kurzen Wege" konzipiert, wird alles für den täglichen Bedarf im Viertel angeboten, Jobs sollen zum Beispiel in dem 22 Hektar großen Bahnstadt-Campus geschaffen werden, dessen Herzstück das Büro- und Laborgebäude Skylabs darstellt. Auch soll es in einem anderen Gebäude mit rund 19.000 Quadratmetern viel Raum für Forschung und Hightech-Unternehmen geben.

Man greife ein Prinzip auf, das sich in der Heidelberger Altstadt seit Jahrhunderten bewähre, betont die Stadt: die enge Verzahnung von Wissenschaft, Gewerbe, Wohnen und Kultur in einem Quartier. So gehen in der Bahnstadt neue Bautechnik und uralte Erkenntnisse der Stadtplanung eine interessante Symbiose ein.

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