Die Nachteile des real existierenden ÖPNV – hier in Berlin – treffen Menschen mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich stark. (Bild: Wolfram Däumel, CC by-sa 3.0)

Mobilität ist mehr als nur Fortbewegung – sie ist Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Sie entscheidet darüber, ob Menschen Zugang zu Arbeit, Bildung, Versorgung oder Kultur haben.

Doch nicht alle bewegen sich gleich schnell oder effizient durch die Stadt. Während manche Menschen sich scheinbar mühelos fortbewegen, stoßen andere auf unsichtbare Hürden, die ihre Alltagswege verlängern und verkomplizieren – obwohl die tatsächlichen Distanzen identisch sind.

Für viele Menschen mit Migrationshintergrund in deutschen Städten ist genau das der Alltag. Aber warum ist das so? 

Unsere Studie "Socio-Spatial Inequalities in Urban Mobility: The Immigrant-Native Travel Time Gap in German Cities" untersucht eine bisher wenig beachtete Dimension sozialer Ungleichheit: Zeitungleichheit – konkret die Zeit, die Menschen für ihre alltäglichen Wege benötigen. Die Ergebnisse zeigen: Menschen mit Migrationshintergrund brauchen in deutschen Städten im Durchschnitt zehn Prozent mehr Zeit für ihre täglichen Wege als Menschen ohne Migrationshintergrund – bei gleicher zurückgelegter Distanz.

Mehr Zeit für die gleichen Wege

Auf Arbeits- und Alltagswegen, die im Rahmen von Sorgearbeit entstehen – wie Arztbesuche mit Verwandten oder Bringen der Kinder in die Kita –, benötigen Menschen mit Migrationshintergrund für die gleichen Strecken neun Prozent mehr Zeit als die übrige Bevölkerung, für Besorgungen sind sie sogar elf Prozent länger unterwegs. Dieser tägliche Mehraufwand macht das tägliche Leben deutlich beschwerlicher und wirkt sich auf die gesellschaftliche Teilhabe aus.

Welche Gründe sind dafür ausschlaggebend? Unsere Analysen zeigen, dass der Zeitunterschied größtenteils darauf zurückzuführen ist, dass Menschen mit Migrationshintergrund weniger Autos pro Haushalt besitzen und entsprechend weniger Wegstrecken mit dem Auto zurücklegen. Das Automobil ist in deutschen Städten oftmals immer noch das schnellste und effizienteste Verkehrsmittel, trotz des vergleichsweise gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehrs. Dennoch erklärt dieser Unterschied nur einen Teil der Zeitdifferenz zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.

Porträtaufnahme von Sarah George.
Bild: Daniel Salaw

Sarah George

ist wissen­schaft­liche Mitarbeiterin in der Forschungs­gruppe "Ausbildung und Arbeitsmarkt" am Wissen­schafts­zentrum Berlin (WZB) und Doktorandin an der Universität Hamburg. Ihr Thema sind sozial­räumliche Ungleich­heiten in deutschen Städten und ihre Bedeutung für nachhaltige Mobilität.

Da Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland im Durchschnitt jünger sind, geringere Einkommen haben und sich auch nach anderen soziodemografischen Merkmalen deutlich von der übrigen Bevölkerung unterscheiden, wurden diese und weitere Faktoren in der Analyse berücksichtigt. Der zeitliche Mehraufwand für die Alltagsmobilität bei gleichen Wegstrecken ist damit aber nicht zu erklären.

Ein weiterer Faktor, den wir als mögliche Erklärung vermuten, ist die Wohnlage. Die Auswertung der Daten ergibt, dass Menschen mit Migrationshintergrund bei Arbeitswegen aufgrund ihrer Wohnlage durchaus Zeit einsparen, verglichen mit der übrigen Bevölkerung. Dies liegt dran, dass sie oft in einem Wohnumfeld zu Hause sind, das als unattraktiv gilt, aber dafür in der Innenstadt liegt.

Auf der anderen Seite verlängern sich dadurch jedoch ihre Wegezeiten für die Sorgearbeit und auch für alltägliche Einkäufe. Dies lässt darauf schließen, dass die Wohnsituation von Menschen mit Migrationshintergrund einen höheren Verkehrsaufwand darstellt. Denn diese Innenstadtwohngegenden sind in aller Regel keine guten Einkaufsgegenden und auch keine Orte hoher Versorgungsdichten.

Qualitative Interviews erlauben einen Blick in den Alltag

Ein weiterer Grund für den höheren Zeitaufwand von Menschen mit Migrationshintergrund könnte in ihren anderen Präferenzen für die Fortbewegung liegen. Die Analyse der üblichen Verkehrsverhaltensdaten erweist sich dabei allerdings als wenig zielführend. Diese auf Umfragen beruhenden Daten spiegeln die vielschichtige Lebensrealität von Menschen mit Migrationshintergrund oft nur unzureichend wider.

Dadurch können wichtige Barrieren, die viele Menschen mit Migrationshintergrund betreffen, übersehen werden. Dies kann zu einer Verallgemeinerung dieser Gruppe führen, obwohl die Erfahrungen von Menschen im Straßenverkehr von Faktoren wie Sprache, Kultur, Religion oder Hautfarbe mitgeprägt werden.

Porträtaufnahme von Katja Salomo.
Bild: privat

Katja Salomo

ist wissen­schaft­liche Mitarbeiterin im Projekt "Rechte Inter­ventionen in der Zivil­gesellschaft", einer Kooperation des Arbeits­bereichs Politisches System der BRD an der Universität Kassel und des Zentrums für Zivil­gesellschaft am WZB. Zuvor forschte sie am European Studies Centre der Universität Oxford.

Aus diesem Grund haben wir exemplarisch Menschen mit türkischem und mit arabischem Migrationshintergrund ausführlich zu ihren alltäglichen Mobilitätserfahrungen in qualitativen Interviews befragt. Ihre Antworten lassen keine Rückschlüsse auf eine besondere Präferenz für die Mobilität ohne Auto oder eine geringere Wichtigkeit des Zeitaufwands für die alltäglichen Wege zu.

Dagegen wiesen die Interviewten immer wieder auf bestimmte Probleme hin, denen sie in ihrer Alltagsmobilität gegenüberstehen. Dazu zählen das mangelnde Sicherheitsgefühl im Straßenverkehr, die Unzuverlässigkeit von Busverbindungen sowie die generell unzureichende Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, die ein häufiges Umsteigen nötig macht.

Unsere qualitativen Analysen erlauben zwar keine direkten Rückschlüsse darauf, ob Menschen mit Migrationshintergrund von diesen Problemlagen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung besonders betroffen sind. Die qualitativen Ergebnisse unserer Studie lassen aber darauf schließen, dass ihr zeitlicher Mehraufwand für Alltagswege darauf zurückzuführen ist, dass ihnen nicht die gesamte Vielfalt von Verkehrsangeboten zur Verfügung steht, sondern die öffentlichen Verkehrsmittel das einzige Mittel der Wahl sind.

Die damit einhergehenden Nachteile können nicht durch eine vermehrte Autonutzung oder durch andere Verkehrsmittel wie Fahrrad oder Sharingangebote kompensiert werden. Menschen mit Migrationshintergrund sind mehr als alle gesellschaftlichen Gruppen in Deutschland auf den öffentlichen Verkehr angewiesen und bekommen damit auch stärker als alle anderen die Nachteile zu spüren.

Diese Abhängigkeiten sollten mitbedacht werden, wenn über die Gründe für den erhöhten Bewegungsaufwand nachgedacht wird. Scheinbar für alle nutzbare Alltagsgegenstände wie das Fahrrad stehen nicht allen Menschen einfach so zur Verfügung.

Zeit ist eine begrenzte Ressource – und Ungleichheiten beim Zeitaufwand für Mobilität sind mehr als nur ein Ärgernis. Wer täglich länger unterwegs ist, hat weniger Zeit für Familie, Erholung, Engagement oder Weiterbildung. Studien zeigen: Zeitknappheit belastet die psychische und physische Gesundheit und verringert gesellschaftliche Teilhabe. Mobilitätszeit ist damit auch eine Frage von Chancengleichheit.

Die Studie

Die Analyse basiert auf einem Mixed-Methods-Ansatz. Quantitativ wurden Daten aus der Erhebung "Mobilität in Deutschland" (MiD) 2017 ausgewertet – von über 54.000 Personen im Alter von 20 bis 60 Jahren aus 82 deutschen Großstädten. Enthalten sind detaillierte Angaben zu Alltagswegen (an einem Stichtag), Verkehrsmitteln, sozioökonomischen Merkmalen und Nachbarschaftscharakteristika. Ausgewertet wurden die Daten mittels hierarchischer Regression.

Ergänzend wurden 29 qualitative Interviews mit Personen türkischer oder arabischer Herkunft in fünf deutschen Großstädten durchgeführt. Ziel war es, über subjektive Perspektiven auf Mobilität, Barrieren im Alltag und Beweggründe für eine bestimmte Verkehrsmittelwahl ein vertieftes Verständnis für urbane Mobilitätsungleichheiten zu gewinnen. Die Auswertung erfolgte mittels qualitativer Inhaltsanalyse in einem systematischen Prozess, bei dem sowohl deduktiv aus dem Forschungsstand als auch induktiv aus dem Material heraus Kategorien gebildet und auf das Interviewmaterial angewandt wurden.

Der Beitrag basiert auf der Studie von Sarah George, Katja Salomo und Theresa Pfaff: Socio-Spatial Inequalities in Urban Mobility: The Immigrant-Native Travel Time Gap in German Cities. A Mixed Method Study, erschienen im April 2025 im Journal of Ethnic and Migration Studies.

 

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

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