Beispiel Berlin-Charlottenburg: Spätestens an der nächsten Kreuzung wird Radfahren lebensgefährlich, wie die Unfallstatistik ausweist. (Bild: Brigitte Hiss/​BMU)

Wissen Sie noch, wie sie 2017 unterwegs waren? Vielleicht auch mit Ihrem Fahrrad?

Schon vor sieben Jahren hatte nahezu jeder Bewohner Deutschlands ein Fahrrad, statistisch gesehen jedenfalls. Damals kamen auf knapp 83 Millionen Einwohner 77 Millionen Fahrräder, darunter vier Millionen Pedelecs, also E‑Bikes.

2023 waren hierzulande schon 84 Millionen Fahrräder vorhanden, rechnerisch hatte nun wirklich so gut wie jeder ein Fahrrad. An E‑Bikes waren elf Millionen unterwegs. Etwa jedes achte Rad hatte bereits eine Antriebs-Batterie.

Mehr Fahrräder bedeuten aber nicht automatisch, dass ihr Mobilitäts-Anteil wächst. Das gilt auch für die Corona-Jahre, in denen Radfahren als sichere Alternative galt. Als eindeutigen Gewinner gerade der Pandemiezeit von 2020 bis 2023 kürt die neueste Mobicor-Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) – die Füße.

Mobicor steht für "Mobilität in der Corona-Pandemie". Laut der aktuellen Studie hat sich der Anteil des Fußverkehrs inzwischen bei mehr als 25 Prozent eingependelt. Nach dem Auto seien die eigenen Füße derzeit das meistgenutzte Verkehrsmittel in Deutschland.

Deutschland soll "Fahrradland plus" werden

Beim Fahrrad gibt es dagegen keine eindeutige Tendenz. Wo eine passende Infrastruktur vorhanden ist, steige der Radverkehrsanteil zwar leicht, zuletzt stagnierte aber die Fahrradnutzung, stellt Mobicor fest.

Mit der Stagnation soll es nach dem Willen des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) möglichst bald vorbei sein. Deutschland könne bis 2035 ein weltweit führendes "Fahrradland plus" werden, erklärte ADFC-Chef Frank Masurat am Dienstag in Berlin.

Um das zu untermauern, präsentierte der ADFC eine Studie des Karlsruher Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI). Diese habe gefragt, wie sich der Radverkehr entwickeln würde, wenn alle Randbedingungen optimal wären, beschreibt Projektleiter Claus Doll vom Fraunhofer ISI das Herangehen.

Bei ihren Prognosen mussten sich die Fraunhofer-Experten noch vor allem auf Daten der regierungsoffiziellen Studie "Mobilität in Deutschland 2017" stützen. Seitdem ist nicht nur die Zahl der Fahrräder wie erwähnt gestiegen, es gibt inzwischen auch ein Deutschlandticket und anderes mehr. Deswegen habe man die 2017er Daten mit Angaben aus Verkehrsverbünden und anderen Quellen aktualisiert und sich eine eigene Datenbasis für 2023 geschaffen, erläutert Doll.

Das so ermittelte Fahrrad-Potenzial für den Zeitraum bis 2035 ist jedenfalls enorm: Unter optimalen Umständen könnte sich der Anteil des Fahrrads am Verkehr von derzeit 13 auf 45 Prozent erhöhen, also so gut wie verdreifachen. Die Anteile beziehen sich dabei laut Studie auf alle Wege im Personenverkehr bis 30 Kilometer.

Bleibe es bei der bisherigen Verkehrspolitik, werde der Anteil des Fahrrads an den täglichen Wegen im selben Zeitraum nur von 13 auf 15 Prozent steigen, betont Doll.

Bisherige Prognosen unterschätzen Rad-Potenzial

Die vorausgesagte Verdreifachung erklärt sich für den ISI-Forscher auch daraus, dass klassische Prognosen die Potenziale des Fahrrads bislang massiv unterschätzten. "Treiber im Radverkehr sind sichere, komfortable und durchgehende Netze. Nicht absteigen, nicht die Verkehrsseite wechseln müssen", erklärt er.

Entscheidend für ein gutes Radklima ist laut der Studie in erster Linie eine einladende Radinfrastruktur. Die Radwege müssen zudem vom Autoverkehr getrennt und geschützt werden.

Nötig sind auch gute Schnittstellen zu Bus und Bahn, Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit, fahrradfreundliche Städte und Gemeinden der kurzen Wege und umgestalteter Parkraum.

Bei voller Rad-Entfaltung würde der Anteil des Autoverkehrs laut der Untersuchung in der 30‑Kilometer-Entfernung um die Hälfte sinken.

Allerdings erzeugt ein "Fahrradland plus" auch ein Minus beim Anteil des Fußverkehrs. Etwa ein Drittel der zu Fuß zurückgelegten Wege würde vom Fahrrad übernommen, räumt Claus Doll ein.

Experte fordert integrierte Verkehrsplanung

Er betont deshalb: Will man zu fairen Verkehrslösungen kommen, muss der gesamte Umweltverbund – Füße, Fahrrad, ÖPNV – betrachtet werden. Dazu müssen ganzheitliche Verkehrsentwicklungspläne erarbeitet werden. Das sei die Message der Wissenschaft an die Politik, hebt Doll hervor.

Dass sich Radverkehr kaum isoliert betrachten lässt, zeigt sich auch daran, was seine Verdreifachung klimapolitisch bringt. Ab 2035 würden laut der ISI-Studie die CO2-Emissionen um 19 Millionen Tonnen jährlich sinken.

Die CO2-Einsparung resultiert nicht allein daraus, dass ein Teil der Leute das Auto stehen lässt oder ganz abschafft, erklärt Claus Doll. Bei der Bestimmung des Klimaeffekts habe man beispielsweise auch die CO2-Emissionen berücksichtigt, die durch den Strom entstehen, mit dessen Hilfe die E‑Bikes hergestellt und geladen werden.

Anders gesagt: Der Klimaeffekt entsteht nicht allein durchs Radfahren, sondern beispielsweise auch dadurch, dass Deutschland ab 2035 ein klimaneutrales Stromsystem haben will.

ADFC-Chef Frank Masurat meint dennoch: Wenn Deutschland es mit Klimazielen und hoher Lebensqualität ernst meine, müsse das Fahrrad der neue "Goldstandard" für die alltägliche Mobilität sein.

Radverkehr braucht auch "kulturelle Offensive"

Für einen Neustart gerade bei der Fahrrad-Infrastruktur plädiert auch Andreas Knie, Mobilitätsexperte beim WZB und nicht an der Fahrradstudie beteiligt. "Was wir brauchen, ist eine Fahrradinfrastrukturbau GmbH – analog zur Autobahn GmbH", erklärt Knie auf Nachfrage.

Aufgabe der Fahrrad-GmbH solle es sein, bundesweit Ressourcen und Kompetenzen zu bündeln, erläutert der Wissenschaftler. Bei der neuen Gesellschaft würden dann Kommunen, vermittelt über die Bundesländer, ihre Fahrradinfrastruktur bestellen.

Des Weiteren müsste, so Knie, in den Straßengesetzen von Bund und Ländern künftig ein sicherer Fahrradweg zwingend für den Betrieb einer Straße vorgeschrieben werden.

Als dritten Schwerpunkt nennt Andreas Knie eine "kulturelle Offensive". Dass Deutschland im Radverkehr schon seit Jahren nicht weiterkomme, liegt für ihn auch an den politischen Strukturen bei der Fahrradinfrastruktur. Diese seien nicht professionell, die politische Lobbylandschaft sei zu zersplittert.

Auch werde die kulturelle Bedeutung des Fahrrads immer noch zu sehr auf eine Gruppe von Vielfahrenden konzentriert.

Redaktioneller Hinweis: Andreas Knie gehört dem Herausgeberrat von Klimareporter° an.