Zwei elektrische Kleinwagen werden an einer Ladesäule in einem Wohngebiet aufgeladen.
Auch in Zukunft findet die Krankenschwester abends keinen Parkplatz für ihren E-Kleinwagen – und ebenso wenig einen Ladeplatz. (Foto: Anke Borcherding)

Das Verkehrskapitel im rot-grün-roten Berliner Koalitionsvertrag "Zukunftshauptstadt Berlin. Sozial. Ökologisch. Vielfältig. Wirtschaftsstark" ist schon adäquat gewürdigt worden: Rückständig, unökologisch, sinnlos. Mehr Kritik geht eigentlich nicht.

Werfen wir dennoch einen zweiten Blick auf die Vereinbarung. Gleich zu Anfang kommt die Schiene ausführlich zu ihrem Recht: "Für die Koalition ist eine starke Schieneninfrastruktur das Rückgrat der Mobilität."

Das ist richtig – die Schiene ist das verlässliche Rückgrat der Mobilität sowohl in der Stadt als auch in der Verbindung mit dem Land – und zugleich völlig falsch. Denn die Schiene wird unsere gesammelten Mobilitätsprobleme jetzt nicht lösen, nicht in der beginnenden Legislatur und nicht in zehn, 15 oder 20 Jahren. Denn bis ein Waggon auf der Schiene rollt, dauert es lange, sehr lange – und die Zeit haben wir nicht.

Dann eben mit dem Bus. Der soll künftig elektrisch fahren und "für Linien im Vorrangnetz bis 2026 durch Sonderfahrstreifen und Busschleusen weiter beschleunigt werden". Moment, was heißt das? Wie viele neue Busspuren-Kilometer werden wann entstehen?

Gut, wir haben ja noch die neuen und alten flexiblen Angebote. Carsharing beispielsweise. "Sharing-Angebote können – sinnvoll gesteuert – ein wichtiger Baustein für die Verkehrswende sein. Die Koalition wird eine Regulierung der Sharing-Angebote im Sinne der Verkehrswende einschließlich qualitativer Standards umsetzen und Sharing-Angebote konzessionieren."

Sharing-Angebote haben schon jetzt keine Chance in dieser Stadt, aber sie sollen gesteuert werden. Sollten sie nicht als Alternative zum privaten Pkw unterstützt werden? Mickrige 3.000 Sharingautos stehen in Berlin 1,2 Millionen privaten Pkw gegenüber. Schon die letzte grüne Senatorin hatte den Sinn von Sharing nicht verstanden.

Leider können wir keine Straßen opfern

Radwege wären auch schön für die nachhaltige Stadt. Leider können wir keine Straßen dafür opfern und die Planung ist kompliziert und dauert lange:

"Radwege durch Grünanlagen sollen nach Möglichkeit durch Führung auf parallelen Straßen vermieden oder so geführt werden, dass sie den Erholungscharakter nicht beeinträchtigen. Bei Radwegen durch Grünflächen stellt die Koalition eine dem Mobilitätsgesetz entsprechende Beleuchtung sicher. Fahrradschnellwege in Grünanlagen sollen die Ausnahme darstellen. Die Koalition strebt in Abstimmung mit Brandenburg die Anbindung des BER über das Radverkehrsnetz an."

Wo ist der Wille, Radwege beschleunigt auszubauen, nachhaltig auf bestehender Infrastruktur, auf Straßen und nicht in Grünanlagen? Wenn es nämlich gute und viele Radwege geben würde, hätten die Fußgängerinnen mehr Spaß auf ihren Bürgersteigen. Ich kann stattdessen mit dem Fahrrad zum Flughafen BER fahren – eine super Idee.

"Die Koalition strebt mittelfristig die Einrichtung einer Zero-Emission-Zone an, die vom Schadstoffausstoß fossil betriebener Fahrzeuge so weit wie möglich freigehalten wird, und prüft dies hinsichtlich rechtlicher Grundlagen sowie möglicher sozialer und verkehrlicher Wirkungen und der Effekte für den Klimaschutz. Voraussetzung dafür ist eine weitere Verbesserung der Angebote des Umweltverbunds sowie der Ausbau der Elektromobilität, damit nachhaltige Mobilität für alle möglich und bezahlbar ist."

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur anders als bisher, wir müssen uns alle radikal verändern. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Da haben wir doch den zentralen Plan für die nachhaltige Mobilität: Zero Emission als Ziel. Leider kommt dann nichts mehr.

Die Vision Zero – also null Verkehrstote – dürfen wir in Berlin erwarten. Sie ist plötzlich die "Leitlinie der Koalition ... zur Vermeidung von Verkehrsunfällen mit Personenschäden. Die Flüssigkeit des Verkehrs ist mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu erhalten. Dabei geht die Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmer:innen der Flüssigkeit des Verkehrs vor.

Die Koalition wird den Dreiklang aus sicherer Infrastruktur, verstärkten Kontrollen und Prävention fortführen und weiter ausbauen sowie das Verkehrssicherheitsprogramm entsprechend der Ziele des Politikrahmens Verkehrssicherheit 2021-2030 der EU weiterentwickeln."

Vision Zero heißt aber nicht Vermeiden von Unfällen, sondern keine Verkehrstoten. Und die erreichen wir nicht durch einen "Dreiklang", sondern durch deutlich weniger Pkw und Lkw auf den Straßen, durch flächendeckende Tempolimits und großflächig autofreie Gebiete.

1,2 Millionen private Autos komplett ausgeblendet 

Und damit kommen wir zum Hauptproblem unserer schönen "Zukunftshauptstadt Berlin": 1,2 Millionen private Autos in Berlin werden komplett ausgeblendet. Jeder soll hier nach seiner Façon mobil sein dürfen und nichts soll sich ändern. Viel zu viele private Pkw in der Stadt, fahrend und meistens parkend.

Es gibt keinen Platz für andere Mobilitätsangebote (gemeint sind alle bekannten Sharing-Angebote) oder Mobilitätsarten (Radfahren, zu Fuß gehen), solange die Stadt von Autos blockiert bleibt.

Auf der Straße muss die Mobilitätswende anfangen: Werden die Autos nicht abgeräumt, gibt es keinen Platz für andere nachhaltige Mobilitätsformen. Solange die privaten Autos in diesem Umfang stehen und fahren, haben die Radfahrerinnen keinen ausreichenden Platz, können Carsharing-Angebote nicht wachsen, werden Fußgängerinnen von Radfahrerinnen und Rollern auf Bürgersteigen bedrängt.

Porträtaufnahme von Anke Borcherding.
Foto: David Außerhofer

Anke Borcherding

ist neben ihrer Tätigkeit im Projekt­management für nachhaltige Mobilität an der FU Berlin Gastautorin der Forschungs­gruppe Digitale Mobilität am WZB. Sie beschäftigt sich theoretisch und vor allem praktisch mit Mobilitäts­projekten und ist in Stadt und Land immer nur mit den Öffentlichen, dem Rad und manchmal einem Carsharing-Auto unterwegs. Dieser Beitrag erschien ebenfalls im WZB-Blog der Forschungs­gruppe Digitale Mobilität.

Ein Thema, das in diesen Kontext gehört und völlig ausgeblendet wird, ist die soziale Gerechtigkeit. Die viel zitierte Krankenschwester findet auch in Zukunft keinen Parkplatz in der Innenstadt, wenn sie mit ihrem Kleinwagen von der Schicht nach Hause kommt. Die Parkraumgebühren werden kaum jemanden bewegen, das Auto abzuschaffen.

Sie findet auch keinen Ladeplatz für ihren elektrischen Kleinwagen, denn an den öffentlichen Ladesäulen werden weiterhin die Diesel-Hybrid-SUV-Dienstwagen stehen und am kostenlosen Parkplatz ihre elektrische Mini-Reichweite optimieren.

Und solange der öffentliche Verkehr nicht systemisch und systematisch flexibilisiert wird, in seinen Angeboten und in seinen Strukturen, besonders bei den Tarifen, wird auch er ein Relikt der autozentrierten Stadt bleiben. So, wie der gesamte Wurf der neuen Koalition im Bereich der Mobilität aus der Vergangenheit stammt.

Und, liebe Grüne, unter diesen Umständen ist es völlig egal, wer Verkehrssenatorin wird. SPD-Regierungschefin Giffey wird schön kontrollieren, dass sich im Verkehr nun auch gar nichts ändert.

 

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