Andreas Knie. (Bild: David Außerhofer)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Andreas Knie, Sozialwissenschaftler mit den Schwerpunkten Wissenschaftsforschung, Technikforschung und Mobilitätsforschung.

Klimareporter°: Herr Knie, das heutige Verkehrssystem bis 2045 klimaneutral zu machen, könnte bis zu zehn Billionen Euro kosten, ergibt eine Analyse von Agora Verkehrswende. Die Fachleute plädieren dafür, ab 2025 zusätzliche Klimamaßnahmen im Verkehr zu ergreifen. Macht es angesichts der Billionen-Summe überhaupt Sinn, ein autozentriertes System auf Klimaneutralität umzustellen?

Andreas Knie: Die Zahlen des Gutachtens wirken in ihrer Größe sicher sehr abstrakt, aber die Botschaft ist eindeutig und nachvollziehbar: Wer später bremst, ist länger schnell und rast mit Vollgas an die Wand.

Die jüngsten Gerichtsurteile auf internationaler und nationaler Ebene sprechen die gleiche Sprache: Sie fordern die Staaten zu mehr Umweltschutz auf, denn die Kosten auch für die freiheitliche Weltordnung werden immer höher, je länger gewartet wird.

Die Menschen wissen um diese Dinge, und es gibt jede Menge Raum für effizientere Maßnahmen, die alle auf dem Tisch liegen, die aber von der aktuellen Koalition nicht umgesetzt werden. Die zentrale Frage ist also: Was hält die Grünen noch in dieser Koalition, die – siehe Reform des Klimaschutzgesetzes – alles noch schlimmer macht als die große Koalition vorher? Wer diese Koalition des Untergangs weiter stabilisiert, macht sich damit selbst schuldig.

Hunderte Aktivistinnen und Aktivisten versuchten vor Wochenfrist die Werkserweiterung der Tesla-"Gigafactory" in Grünheide bei Berlin zu verhindern. Was meinen Sie: Sind E‑Autos eher Teil der Lösung oder eher Teil des Problems?

Tesla wird wie auch in der Vergangenheit Ausgleichsmaßnahmen vorzunehmen haben, und sie werden umfangreicher sein als vorgeschrieben. Die Schienenverkehrsinfrastruktur ist jetzt schon besser als vorher und sie wird noch weiter ausgebaut. Und ja – in und um die Gemeinde wird es mehr Verkehr geben.

Tesla verbraucht deutlich weniger Wasser als vergleichbare Unternehmen und nur einen Bruchteil von dem, was der Lausitzer Kohlekonzern Leag vernutzt. Überhaupt hat das Wasserproblem eine Ursache im weiter vorangetriebenen Braunkohletagebau. Das Tagebaurestloch Cottbuser Ostsee braucht noch jede Menge Wasser, damit es irgendwann voll wird und die Mondlandschaft bedeckt ist.

Bleibt das Thema Auto: Klar, mehr Autos lösen unsere Probleme nicht, es müssen weniger werden und die müssen elektrisch sein.

Diesen Transformationsschritt hat die deutsche Industrie bislang nicht in der Konsequenz getan wie Tesla. Ohne Tesla würde es in der Autobranche überhaupt keinen Fortschritt geben. Warum also das Protestcamp nicht in München, Wolfsburg, Ingolstadt, Stuttgart oder im Braunkohletagebau aufgeschlagen wird, erschließt sich mir nicht.

Ein gutes Dutzend Unternehmen, Branchen- und Umweltverbände forderte diese Woche angesichts der kommenden Europawahl einen europäischen Aufbruch für die klimafreundliche Schiene. Die EU müsse die neue Wahlperiode "zur Legislatur der Schiene machen", heißt es in einer Erklärung. Würden Sie die auch unterschreiben?

In Europa war und ist die Organisation des Schienenverkehrs primär eine Aufgabe der Einzelstaaten. So gut wie nichts ist international standardisiert: keine einheitliche Sprache, keine einheitlichen Regeln, kein einheitlicher Strom, keine einheitliche Spurbreite, kein einheitliches Buchungssystem.

Für Kunden ist der grenzüberschreitende Bahnverkehr schlichtweg eine Zumutung und fürs Klima sind die nationalen Alleingänge eine Katastrophe. Während beim Straßenverkehr fast alles harmonisiert wurde und der Mobilfunk praktisch nur noch internationale Standards kennt, hat die EU bei der Schiene – man muss es so sagen – total versagt.

Die der Schiene eigentlich zugedachte Rolle wäre gewesen, die nationalen Verliebtheiten mit ihrem Beharren auf Traditionen, für die es längst keine Begründung mehr gibt, aufzulösen und zu vereinheitlichen, damit endlich ein grenzenloser Bahnverkehr möglich wird. Es ist also höchste Zeit für einen Aufbruch.

Mit technischen Innovationen kann Fliegen klimafreundlicher werden, zeigt ein Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung des Bundestages. Doch Klimaneutralität ist so nicht erreichbar. Zudem wird wieder fast so viel geflogen wie vor der Pandemie. Ist gegen das Fliegen kein Kraut gewachsen?

Rund 68 Prozent der Bevölkerung in Deutschland fliegen nie oder fast nie, weitere 20 Prozent selten – es sind nur wenige, die dauernd in der Luft unterwegs sind.

Die Zahl der Fluggäste befindet sich immer noch deutlich unter dem Niveau vor Corona. Vor allem der Inlandsflugverkehr – besonders zwischen den kleinen Flughäfen – findet fast gar nicht mehr statt.

Was noch geht, ist der Zubringerverkehr nach München, Frankfurt am Main und Düsseldorf und in die Eventstadt Berlin. Vom Volumen her sind es immer noch erst 60 bis 80 Prozent von vor Corona.

Aber: Fliegen wird bleiben und gehört zur Völkerverständigung dazu. Aber man sollte das Flugzeug nicht mit einem Bus oder Taxi verwechseln und als alltäglich begreifen, sondern als ganz exklusive Form der Fortbewegung.

Eine Idee wäre, allen Menschen ab 16 Jahren drei Flugpaare pro Jahr zu gewähren. Wer mehr Flüge braucht, könnte sich von denen, die nicht fliegen, welche ausleihen. Sehr schnell könnte so ein Markt für Flugrechte entstehen und am Ende würde es sich für die Menschen, die gar nicht fliegen, richtig auszahlen. Technisch einfach und schnell umzusetzen.

 

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Das wunderschöne Städtchen Freudenberg im Siegerland hat letzte Woche im Stadtrat ohne Gegenstimmen beschlossen, ihren historischen Altstadtkern weitgehend autofrei zu gestalten.

Solche Meldungen gehen gewöhnlich im Tagesrauschen unter, aber: Das Siegerland ist besonders konservativ, gesellschaftliche Veränderungen werden nur ganz, ganz langsam vorgenommen, alle neuen Schritte hundertmal geprüft und abgewogen.

Wenn in einer solchen kleinen Gemeinde, weitab von der akademischen Welt, die dort gewählten Vertreter eine solche Grundentscheidung treffen, ist das ein Indikator dafür, dass es keine Rückkehr mehr zur alten Welt voller Autos gibt, die überall in großer Zahl fahren und stehen dürfen.

Fragen: Jörg Staude