Deutschlands Fernstraßennetz ist eines der dichtesten in Europa – mit rund 13.000 Kilometern Autobahnen und 38.000 Kilometern Bundesstraßen. Trotzdem und trotz des seit Corona zurückgegangenen Pkw-Verkehrs sollen 6.000 Kilometer Fernstraßen neu gebaut werden und 4.000 Kilometer Strecke zusätzliche Fahrspuren bekommen – während gleichzeitig das Bestandsnetz zunehmend sanierungsbedürftig ist.
Als eine Hauptursache für diesen Widerspruch sieht die Umweltorganisation Greenpeace den in Jahrzehnten gewachsenen Lobbydruck der Bauindustrie und anderer Akteure, die von dem Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur profitierten.
Greenpeace hat die Verflechtungen der Straßenbau-Lobby in einem Report mit dem Titel "Asphalt statt Alternativen" analysiert, der Klimareporter° vorliegt.
Das Interessengeflecht beim Fernstraßenbau reicht danach von den Baukonzernen über die Straßenbauverwaltungen und die Autobauer bis zu den Hochschulen. Es geht dabei für die Unternehmen um gewaltige Umsätze, ansonsten aber auch um Arbeitsplätze und politischen Einfluss.
Wenige große Baukonzerne profitieren besonders
Für die Erweiterung des Netzes sind in den letzten Bundesetats jeweils 2,5 bis drei Milliarden Euro pro Jahr ausgegeben worden, bei gleichbleibenden Ansätzen betrügen die Kosten bis 2030 also 15 bis 18 Milliarden. Geplant sind insgesamt aber Projekte mit noch weit höheren Kosten.
Besonders einflussreich sind laut dem Lobbyatlas große Unternehmen und Verbände. Zwei Drittel aller im Lobbyregister des Bundestages erfassten Akteure im Bereich Verkehrsinfrastruktur sind danach Konzerne und andere Firmen sowie Wirtschafts- und Arbeitgeber-Verbände.
Dem Bericht ist weiter zu entnehmen, dass einige wenige Baukonzerne die größten Profiteure des Straßenbaus seien. In den letzten vier Jahren erhielten danach fünf Großunternehmen, darunter Hochtief, Strabag und Max Bögl, Aufträge für Erhaltung, Neu- und Ausbau von Autobahnen, deren Gesamtwert nach Schätzungen mehre Milliarden Euro beträgt und höher liegt als der aller anderen Auftragnehmer zusammen.
Laut dem Report summieren sich Aufträge, soweit öffentlich ausgewiesen, auf 1,94 Milliarden Euro. Die Vergabepraxis ist Greenpeace zufolge allerdings in großen Teilen intransparent. Für zwei Drittel der Aufträge seien die Summen nicht bekannt.
Laut dem Report dominieren auch bei den Industrie- und Handelskammern (IHK), die vielerorts einen Ausbau des Fernstraßennetzes fordern, die Geschäftsinteressen von Großunternehmen.
Bei sechs untersuchten IHKs, die umstrittene Autobahnprojekte unterstützen, gehört danach die Mehrheit der Präsidiumsmitglieder großen und mittleren Unternehmen an. Kleine Unternehmen, die über 90 Prozent der Mitglieder dieser Organisationen ausmachen, sind nach der Greenpeace-Auswertung in den Präsidien unterrepräsentiert oder gar nicht vertreten.
Greenpeace wirft "dieser gut organisierten Lobby" vor, trotz der Notwendigkeit einer nachhaltigen Verkehrspolitik und anhaltender Klimaproteste einen unzeitgemäßen Ausbau der Straßen-Infrastruktur voranzutreiben. Das schade nicht nur dem Klimaschutz, sondern durch zunehmende Bodenversiegelung und Zerschneidung der Landschaft auch der Biodiversität.
Die Verkehrsexpertin der Organisation, Lena Donat, sagte dazu: "Die deutsche Straßenbaumaschinerie betoniert unaufhaltsam und ignoriert dabei nicht nur Umweltbedenken, sondern erschwert auch eine nachhaltige Verkehrswende." Es sei dringend erforderlich, dass die Infrastrukturplanung sich künftig an klima- und sozialpolitischen Zielen orientiert und nicht an den Gewinninteressen von einigen wenigen.
Verkehrsprognosen bis 2030 gelten als überholt
Greenpeace fordert, Mittel, die für den Ausbau der Fernstraßen geplant sind, in die Sanierung des bestehenden Netzes und Alternativen wie die Bahn zu stecken. Donat: "Eine funktionierende Bahn und Straßen ohne Schlaglöcher bringen den Menschen mehr als immer weitere Betonschneisen durch die Landschaft."
Derzeit gelten über 7.000 Kilometer des Fernstraßennetzes und 4.000 Autobahnbrücken als sanierungsbedürftig. Die Brückensanierung gilt seit dem Einsturz der Carolabrücke in Dresden im September als besonders dringend.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) hat zwar angekündigt, 400 Brücken im Jahr sanieren lassen zu wollen. Derzeit wird jedoch wegen nicht ausreichender Mittel nur etwa die Hälfte erreicht, wie der Präsident des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie (HDB), Peter Hübner, jüngst in einem FAZ-Interview beklagte.
Wissings "Brückenbooster" zünde nicht, sagte der Funktionär. "Und wie es heute aussieht, bauen wir ab dem kommenden Jahr noch weniger. Da vor allem die Planungen fehlen."
Die Ausbaupläne für die Fernstraßen sind im aktuellen Bundesverkehrswegeplan festgelegt, der 2016 unter der damals regierenden Merkel-Groko verabschiedet wurde und bis 2030 gilt. Sie basieren unter anderem auf Verkehrsprognosen, die als überholt gelten.
Das gilt spätestens, seit die Corona-Epidemie das Verkehrsverhalten vor allem durch mehr Homeoffice verändert hat. So waren nach einer Analyse des Berliner Thinktanks Agora Verkehrswende 2023 auf den Autobahnen sieben Prozent weniger Pkw unterwegs als im letzten Vor-Corona-Jahr 2019.
Agora-Vizechefin Wiebke Zimmer schloss daraus: "Die Verkehrsdaten bringen einen weit verbreiteten Glaubenssatz der Verkehrspolitik ins Wanken. Trotz leicht steigender Bevölkerungszahlen und einem stetig wachsenden Pkw-Bestand hat der Autoverkehr gegenüber 2019 abgenommen. Verkehrswachstum ist also kein Naturgesetz."
"Massive Subventionierung großer Auto-Entfernungen"
Der Kasseler Verkehrsprofessor Helmut Holzapfel kritisiert in dem Greenpeace-Report, in kaum einem anderen Land werde das Fahren über lange Distanzen so gefördert wie in Deutschland – unter anderem durch die Kilometerpauschale, das Dienstwagenprivileg und die kostenfreie Nutzung fast aller Fernstraßen.
Letzteres sei zum Beispiel in 16 Ländern Europas anders, wo es eine streckenbezogene Autobahnmaut gebe, etwa in Italien, Frankreich oder Spanien. Holzapfel: "Das wachsende Autobahnnetz bei uns und dessen hohe Attraktivität hängt also auch mit einer massiven Subventionierung großer Entfernungen mit dem Automobil zusammen."
Holzapfel kritisiert zudem, dass die Verkehrsprognosen und Nutzen-Kosten-Analysen, die die Basis des Bundesverkehrswegeplans bilden, zweifelhaft seien, und "zwar insbesondere bei den veranschlagten Kosten und den Umweltfolgen".
Kosten des Straßen-Neubaus
Für den Neu- und Ausbau der Fernstraßen waren in den letzten Bundesetats pro Jahr etwa 2,5 bis drei Milliarden Euro eingeplant. Schreibt man das fort, gibt der Bund bis 2030 weitere 15 bis 18 Milliarden Euro dafür aus.
Allerdings würde dieses Geld laut Greenpeace bei Weitem nicht für die im aktuellen Bundesverkehrswegeplan enthaltenen Projekte ausreichen. Der Plan gilt von 2016 bis 2030.
Der aktuelle Kostenstand der Projekte der dringlichsten Stufen ("fest disponiert", "fest disponiert – Engpassbeseitigung", "vordringlicher Bedarf" und "vordringlicher Bedarf – Engpassbeseitigung") beträgt danach 124 Milliarden Euro.
Ausgegeben wurden bis 2023 rund 23 Milliarden. Damit bleiben gut 100 Milliarden Euro, die inklusive einer "Schleppe" bis etwa 2035 verbaut baut werden sollen.
Wollte man in den nächsten zehn Jahren alle Projekte realisieren, müssten die jährlichen Mittel also auf rund zehn Milliarden Euro steigen. Dabei sind zukünftige Kostensteigerungen noch nicht eingerechnet.
Eine problematische Rolle spiele hierbei die "Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen" (FGSV), deren Methodik die Verkehrsprognosen in Deutschland stark beeinflusse. Die FGSV arbeite bis heute ohne Einbeziehung von Umweltfachleuten und zivilgesellschaftlichen Organisationen und bewerte neuen Straßenbau durchweg zu positiv.
Der Verkehrsexperte, der der Forschungsgesellschaft selbst bis 2015 angehörte, sagte, es sei nicht möglich gewesen, das Gremium von der Notwendigkeit einer Neubewertung des Straßenbaus unter Berücksichtigung von Klima- und Biodiversitäts-Schäden zu bewegen. Sie ebne dem weiteren Straßenbau "entgegen wissenschaftlicher Erkenntnisse" den Weg.
Erfolglose Grüne
Bundesverkehrsminister Wissing hält an den Fernstraßen-Ausbauplänen trotz der Finanzknappheit im Bundesetat grundsätzlich fest. Darunter auch an sehr umstrittenen Projekten wie dem Weiterbau der A20 in Norddeutschland, wobei für Ökologie und Klimaschutz wichtige Moorgebiete durchquert werden sollen.
Auch der Ausbau der A5 bei Frankfurt am Main auf zehn Spuren, wodurch die erste Autobahn dieser Dimension in Deutschland entstehen würde, bleibt im Plan. Wissing kündigte unlängst ein "Gesamtkonzept" für die Zehn-Spur-Trasse an und sagte dazu: "Wir haben den Auftrag, dafür zu sorgen, dass Deutschland nicht im Stau steht."
Die Grünen, die mit der FDP in der Ampel-Koalition sind, sehen die Ausbaupläne kritisch und bestätigen, dass sie aufgrund großen Lobbydrucks zustande kämen. Susanne Menge, Obfrau im Verkehrsausschuss, lobt in diesem Zusammenhang die Greenpeace-Studie.
"Die Recherche zeigt eindrücklich, wie das Netzwerk der Pkw-Lobby in so viele gesellschaftliche Bereiche hineinreicht. Auch immer mehr Parteien stellen sich völlig unverbrämt einseitig hinter die Interessen der Autofahrenden", so Menge. Die Grünen würden weiter dagegenhalten, "auch wenn es auf Bundesebene schwer ist, Unterstützung für eine progressive Mobilitätspolitik zu bekommen".
Allerdings kommt auch von unerwarteter Seite Unterstützung für eine neue Sichtweise. So überraschte der Autoclub ADAC mit einem Statement zum A5-Projekt: Man lehne "einen sofortigen zehnstreifigen Ausbau der A5 ab", teilte der ADAC Hessen-Thüringen mit.
Gründe: Die prognostizierten Verkehrsmengen für 2025 würden voraussichtlich deutlich unterschritten. Zudem seien "die enorm hohen technischen, finanziellen und personellen Aufwände bei gleichzeitig begrenzten planerischen und baulichen Kapazitäten nicht gerechtfertigt".
Solche Äußerungen von einem Autofahrerclub sind bemerkenswert, zumal der ADAC vor einigen Jahren auch schon seinen Widerstand gegen ein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen aufgegeben hat.