Blick auf eine mehrspurige Straße, mit vielen vielen Autos
Private Autos stehen immer noch für Mobilität. Zu viele davon machen daraus einen Stau, bewirken also das Gegenteil. (Foto: C. Pichler/​Flickr)

Die Entscheidung kam nicht überraschend, sie kam mit Ansage. Seit Monaten droht die EU-Kommission Deutschland mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), falls nicht endlich etwas gegen die notorische Luftverschmutzung in vielen Städten unternommen wird. Mehrfach verschob die Kommission die gesetzten Fristen. Nun hat sie in dieser Woche ihre Drohung wahrgemacht. Bemerkenswert ist vor allem die enorme Geduld, die Brüssel bei dem Thema an den Tag legt.

Es geht um NOx. Erhöhte Konzentrationen von Stickoxiden in der Luft schädigen die Atmungsorgane. Tausende von frühzeitigen Todesfällen werden vor allem mit Stickstoffdioxid (NO2) in Zusammenhang gebracht. Auch Ökosysteme werden geschädigt; bei Pflanzen werden die Blätter gelb, Böden versauern. Stickoxide entstehen beim Verbrennen von Kohle, Öl, Gas sowie Holz. In Städten ist der Straßenverkehr der Hauptverursacher.

Um Bürger und Umwelt besser zu schützen, gibt es in der EU seit 2010 einen strengeren Grenzwert. In der Umgebungsluft sind nur noch 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid je Kubikmeter (im Jahresmittel) erlaubt.

Dabei wurden – wie immer bei EU-Vorschriften – großzügige Übergangsfristen eingeräumt. So soll sichergestellt werden, dass es für die Verantwortlichen realistischerweise machbar ist, die neuen Vorschriften auch tatsächlich einzuhalten.

Städte konnten eine Fristverlängerung um bis zu fünf Jahre beantragen, also bis 2015. Da die neuen Grenzwerte schon 2008 beschlossen wurden, hatten die Kommunen alles in allem sieben Jahre Zeit, um sich auf die veränderten Gegebenheiten einzustellen. Niemand verlangte, dass von heute auf morgen alles anders wird.

Voraussetzung für die Fristverlängerung war lediglich, dass die Städte einen sogenannten Luftreinhalteplan vorlegen. Dieser sollte schlüssig aufzeigen, wie die Kommunen die Grenzwerte künftig einhalten wollen.

2015, als die Frist ablief, gab es zwar überall schöne Pläne. Die Grenzwerte wurden aber immer noch nicht eingehalten.

Wachstum bei Autos in Zahl und Verbrauch

Gründe gibt es dafür viele. Das Verkehrsaufkommen in Deutschland steigt und steigt. Im ersten Quartal dieses Jahres wurden fast 900.000 Autos neu zugelassen, vier Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die Branche fuhr damit ihr bestes Verkaufsergebnis seit dem Jahr 2000 ein.

Das Kraftfahrt-Bundesamt verzeichnete zum Jahresbeginn eine Rekord-Fahrzeugdichte von 687 Kfz je 1.000 Einwohner. Der Fahrzeugbestand erhöhte sich im letzten Jahr um gut eine Million und liegt nun bei 56,5 Millionen Fahrzeugen. 46,5 Millionen davon sind Pkw.

Zudem werden die Fahrzeuge größer, schwerer, verbrauchsstärker. Die Zahl der SUV wächst am stärksten. Die Klimakomponente der Kfz-Steuer, die 2009 eingeführt wurde, ist absurderweise so gestaltet, dass größere Fahrzeuge am meisten profitieren. Sie ist ein Anreizprogramm für mehr SUV, genauso wie die Autobauer es sich gewünscht haben.

Mit anderen Worten: Die Bundesregierung hat Entscheidungen getroffen, deren Folgen das Abgas-Problem nur noch größer gemacht haben.

Und dann gibt es da auch noch die Schummeleien der Autoindustrie, Stichwort Dieselskandal. Viele Jahre lang wurde der Diesel als die rollende Superwaffe für Umwelt- und Klimaschutz gepriesen. Bis heute wird der Selbstzünder mit Steuernachlässen belohnt.

Doch die Abgaswerte sind eben nur auf dem Papier und im Labor okay, auf der Straße ganz und gar nicht. Das erschwindelte Mehr an Emissionen macht sich dann an den Messstationen am Stuttgarter Neckartor und anderswo bemerkbar.

Die Messungen zeigen klar und eindeutig: Mit den bisherigen Wir-lassen-alles-laufen-Methoden sind die EU-Grenzwerte nicht einzuhalten. Brüssel eröffnete deshalb 2015 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland.

Andere Mitgliedsstaaten hatten ihren Verkehrssektor genauso wenig in den Griff bekommen. Wegen Missachtung der Grenzwerte für Stickoxide ging die EU-Kommission auch gegen Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien vor. Und gegen Rumänien, Ungarn, Tschechien, die Slowakei und nochmals Frankreich und Italien, weil sie die Feinstaub-Grenzwerte überschritten.

Brüssel übte sich lange in Geduld

Seitdem droht, als letzter Schritt des Vertragsverletzungsverfahrens, die Klage vor dem EuGH. Nun ist die EU-Kommission diesen letzten Schritt gegangen.

Zuvor aber setzte Brüssel immer wieder neue Fristen – und verlängerte diese mehrfach. Deutschland und die anderen Länder wurden aufgefordert, weitere Maßnahmen zur Luftreinhaltung vorzulegen und so die Klageerhebung womöglich noch abzuwenden.

Den Aufforderungen kam die Bundesregierung zwar nach und präsentierte immer wieder neue Maßnahmen. Eingehalten werden die Grenzwerte trotzdem nicht. 2017 wurden sie in 66 deutschen Städten überschritten, in Großstädten teilweise sogar deutlich.

Beispielsweise lud die Bundesregierung letztes Jahr mit großem Getöse zu etlichen "Diesel-Gipfeln" ein. Mal waren die Chefs der Autoindustrie dabei, mal die Vertreter von Ländern und Kommunen. Herausgekommen ist auch dabei, gemessen an der Größe des Problems, herzlich wenig.

Die Autobauer versprachen lediglich kostengünstige und nicht ausreichend wirksame Software-Updates. Die Bundesregierung kündigte einen "Mobilitätsfonds" an, der Städten helfen soll, Maßnahmen für eine bessere Luftqualität "möglichst schnell umzusetzen". Zur Erinnerung: Damit hätten die Städte eigentlich schon vor zehn Jahren beginnen müssen, als die Grenzwerte festgelegt wurden.

Was die Bundesregierung unternahm, konnte die EU-Kommission nicht überzeugen. Zu Beginn des Jahres musste die damalige geschäftsführende Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) nach Brüssel reisen, um nochmals nachzulegen. Im Gepäck hatte sie auch die Idee eines kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs, die aber schnell wieder in der Versenkung verschwand.

Keine Pläne für eine andere Verkehrspolitik

Auch im Koalitionsvertrag der neuen großen Koalition steht wenig Greifbares. Fahrverbote für Dieselfahrzeuge sollen unbedingt vermieden werden, Hardware-Nachrüstungen werden aber nur in Betracht gezogen, "soweit technisch möglich und wirtschaftlich vertretbar". Für den ÖPNV gibt es etwas mehr Geld, für die Förderung der Elektromobilität ebenso, das ist alles.

Und der Verkehrsminister kommt wieder aus der CSU, die damit seit 2009 ununterbrochen auf Bundesebene für das Thema zuständig ist. Man könnte auch sagen: Genauso lang, wie das Grenzwerte-Problem mittlerweile auf dem Tisch liegt.

Andreas Scheuer, der aktuelle christsoziale Bundesverkehrsminister, kritisierte denn auch die Klageerhebung durch Brüssel mit sehr scharfen Worten. Vor allem, dass die EU-Kommission Deutschland zugleich für den allzu passiven Umgang mit dem Dieselskandal rügt, missfällt Scheuer. Das sei "völlig neben der Spur", wetterte er, "völlig realitätsfern".

"Kein anderer Mitgliedsstaat", sagte Scheuer, "hat so umfassende und strenge Maßnahmen ergriffen wie Deutschland". Als Beispiele nannte er "Pflichtrückrufe und Software-Updates auf Kosten der Hersteller". Für die Strafverfolgung sei in Deutschland die Justiz zuständig, belehrte er die EU-Kommission. Es sei befremdlich, dass Brüssel das "offensichtlich" nicht wisse.

Hardware-Nachrüstungen, wie im Koalitionsvertrag noch in Betracht gezogen, müssen die Autobauer indes nicht fürchen, schon gar nicht auf ihre Kosten. Scheuers Chefin, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), machte das bei der Generaldebatte zum Bundeshaushalt 2018 in ihrer Rede unmissverständlich klar.

Die Konsequenzen aus dem Dieselskandal dürfen der Autoindustrie laut Merkel nicht all zu weh tun, dürfen "nicht zu stark einschränkend" sein. "Es kann nicht unser Interesse sein, dass wir durch politische Maßnahmen die Automobilindustrie so schwächen, dass sie keine Kraft mehr hat, in die eigentlichen Zukunftsinvestitionen etwas hineinzustecken", sagte Merkel.

Warum Merkel die Autoindustrie für so fürsorgebedürftig hält, erschließt sich nicht, wenn man auf die ausgezeichneten Jahresbilanzen der Konzerne schaut. Volkswagen etwa konnte 2017 seinen Nettogewinn auf 11,4 Milliarden Euro mehr als verdoppeln. 2016 waren es rund fünf Milliarden gewesen. Den Dieselskandal hat VW offenkundig problemlos weggesteckt.

Wie bei dieser Verkehrspolitik der Ausstoß von Schadstoffen jemals sinken soll, ist die große Frage. Eine Antwort hat das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt bereits 2016 geliefert – im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums.

Deutschland müsste demnach den Radverkehr so fördern wie die Niederlande und das Bahnfahren so wie die Schweiz. Dadurch würde sich das Mobilitätsverhalten verändern. Wenn die Bundesbürger häufiger mit dem Rad und der Bahn fahren und weniger mit dem Auto, könnte etwa der Ausstoß des Klimagases CO2 um sieben Prozent sinken.

Sieben Prozent, das klingt vielleicht nach wenig. Doch gemessen an der kontinuierlichen Erhöhung der Emissionen, die im Verkehrssektor seit Jahren zu verzeichnen sind, wäre das sehr viel.

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