Pipeline
Die entwickelten Länder hängen am Erdöl, doch der Rohstoff hat keine Zukunft. Ist das Problem zu groß, um als solches anerkannt zu werden? (Foto: Rodion Kuzajew/​Wikimedia Commons)

Es ist ein Meilenstein in der Menschheitsgeschichte: Der weltweite Ölverbrauch hat die historische Marke von 100.000.000 Barrel Öl erreicht. 100 Millionen Fass mit je 159 Litern Öl. An jedem Tag. Das entspricht einem Güterzug aneinander gekoppelter Ölwaggons, der von Süditalien bis zum Nordkap reicht.

In ihrem letzten "Oil Market Report" vom 18. Januar hat die Internationale Energieagentur IEA, die weltweit einflussreichste Instanz in Energiefragen, die magisch anmutende Zahl bestätigt. Für das vierte Quartal 2018 wird die Ölnachfrage von der in Paris sitzenden Agentur auf "100,1 Millionen Barrel pro Tag" beziffert.

Im täglichen Nachrichtengewitter ist die Zahl bisher untergegangen. So hat die Menschheit vollkommen geräuschlos genullt und damit eine Marke erreicht, die gleichermaßen eindrucksvoll wie beängstigend ist. Wie soll diese gewaltige Ölnachfrage auf Dauer befriedigt werden?

Die bisher stets überoptimistische IEA hat angesichts des weiter steigenden Verbrauchs die Endlichkeit des Öls unmissverständlich thematisiert. In einem zum Jahresende veröffentlichten fünfseitigen Kommentar zur künftigen Ölversorgung werden in ungewohnter Schärfe künftige Versorgungslücken beschworen. Schon die Überschrift ist für eine auf Seriosität bedachte Organisation ziemlich drastisch: "Wenn wir auf die Zahlen blicken: Steht uns ein Öl-Versorgungsschock bevor?"

Die beiden Autoren, Tim Gould und Christophe McGlade, sind in der IEA für Zukunftsszenarien der Ölversorgung verantwortlich. Sie sagen einen weiteren Anstieg des Ölverbrauchs von täglich 7,5 Millionen Barrel bis 2025 voraus. Doch im selben Zeitraum – so ihre Befürchtung – könnte die Versorgung dramatisch einbrechen, wenn nicht in neue Felder und in die Ausbeutung existierender Felder massiv investiert werde. Bei einer Fortschreibung des gegenwärtig niedrigen Investitionsniveaus werde sich eine Versorgungslücke von 35 Millionen Barrel auftun.

Was die Autoren nicht sagen: Der dringend notwendige, zusätzliche Investitionsschub erscheint illusorisch, zumal in den vergangenen Jahren die Neufunde an Ölfeldern ein historisches Tief erreicht haben. 2018 wurde so wenig neues Öl entdeckt wie nie zuvor seit 1947.

Schon seit den 1960er Jahren nimmt die Rate der Ölfunde ab. Seit den 1980er Jahren sind die Neufunde deutlich geringer als der steigende Ölverbrauch. Der wird immer noch zu großen Teilen aus der Ausbeutung alter Felder gespeist, die teilweise vor mehr als 50 Jahren entdeckt worden sind.

Wie man auch rechnet – es bleibt eine Versorgungslücke

Selbst bei einer künftig optimalen Entwicklung des Sektors mit kräftigen Zuwächsen beim Abbau von Ölsanden, selbst bei einer Inbetriebnahme zahlreicher neuer Ölfelder und zusätzlicher Fracking-Projekte außerhalb der USA bliebe, so rechnen die Autoren vor, immer noch eine Versorgungslücke von elf Millionen Barrel täglich.

Einziger Hoffnungsträger für die IEA-Experten ist das Fracking in den USA. Mit einem steilen Anstieg der US-Produktion könnte die Versorgungslücke theoretisch geschlossen werden. Dazu müsste die gegenwärtige Förderung aus dem Schiefergestein in Texas, New Mexico, Nord-Dakota und Pennsylvania sich aber mindestens verdoppeln.

Die Autoren beziffern die aktuelle US-Förderung durch Fracking auf 9,5 Millionen Barrel täglich. Sie müsste bis 2025 auf 20 Millionen ansteigen. Dies würde bedeuten, so der IEA-Kommentar, dass die US-Förderung noch um die Menge der derzeitigen Öl-Förderung ganz Russlands steigt – sich also faktisch mehr als verdoppelt.

Dazu sei "ein Ausmaß an Investitionen und eine Zahl an Bohrungen nötig, die alle bisherigen Höchststände weit übertreffen müsste", heißt es in dem IEA-Papier weiter. Die beiden Wissenschaftler lassen keinen Zweifel daran, dass dieses Szenario ziemlich fantastisch erscheint. So bleibt ihr Kommentar ein fast verzweifelter Weckruf, der Ölexperten und Marktbeobachter in Erstaunen versetzt.

Wo Erdöl draufsteht, ist immer weniger Erdöl drin

100 Millionen Barrel Öl täglich! Eigentlich ist diese Zahl eine Falschmeldung. Denn in dem Tausende Kilometer langen Güterzug mit 100 Millionen Barrel Öl befinden sich auch Flüssigkeiten, die per Definition eher Pseudo-Öl oder Öl-Ersatz sind. Öl ist keine einheitliche Commodity wie Gold oder Platin. So werden unter die 100 Millionen Fass Öl auch Biodiesel und Ethanol subsumiert oder die bei der Erdgasförderung gewonnenen flüssigen Kondensate namens Natural Gas Liquids, deren Energiegehalt nur 70 Prozent des richtigen Rohöls ausmacht.

Auch die als Nebenprodukt bei der Verarbeitung von Öl anfallenden "Refinery Gains" – übersetzt etwa: Zugewinne aus Raffinerie-Prozessen – werden mitgerechnet. Der gleichberechtigte Ausweis dieses By-Produkts in den Statistiken unter der Kategorie "Ölversorgung" ist eigentlich eine Irreführung. Damit wird ein zusätzliches Energieangebot suggeriert, das nicht mehr ist als eine Luftbuchung, weil zur Herstellung dieses Nebenprodukts mehr Energie verbraucht als gewonnen wird. Gleichwohl hilft dies der Branche, die Illusion eines immer weiter steigenden Öl-Angebots aufrecht zu erhalten.

Es sei auffällig, dass dieser Kommentar nach der üblichen Jahrespräsentation des World Energy Outlook der IEA im November noch explizit nachgeschoben wurde, sagt der Münchner Energie-Wissenschaftler Jörg Schindler, Autor zahlreicher Fachbücher zum Öl. "Das zeigt die Dringlichkeit der Botschaft, eigentlich eine Sensation."

Schindler erinnert gleichzeitig an den Schuldenberg von 300 Milliarden Dollar, den die US-amerikanischen Fracking-Firmen angehäuft hätten. Deshalb sei in den USA eine neue gewaltige Investitionswelle, um künftige Versorgungslücken zu schließen, komplett illusorisch. Der IEA-Kommentar, so Schindler, "sagt in aller Klarheit, dass Peak Oil vor der Türe steht; wir müssen künftig mit sehr viel weniger Öl auskommen und wir sind nicht darauf vorbereitet."

Tatsächlich ist Erdöl nach zwei Jahrzehnten Energiewende auch in Deutschland immer noch der wichtigste Energieträger. Der Verkehr ist fast vollständig vom fossilen Öl abhängig – auf den Straßen, zu Wasser und in der Luft. Der Verkehrssektor ist auch der einzige, in dem der CO2-Ausstoß zu- statt abgenommen hat.

Doch die Erdüberhitzung spielt im internationalen Öldiskurs ebenso wenig eine Hauptrolle wie das durch Fracking verursachte Umweltdesaster. Weder die Big Three – Saudi-Arabien, USA, Russland – noch die anderen großen Opec-Förderer denken daran, auch nur einen Tropfen Erdöl aus Gründen des Klimaschutzes in der Erde zu lassen.

Der Rückgang der Treibhausgasemissionen wird zwangsläufig kommen, wenn, wie jetzt auch die IEA befürchtet, die Öl-Förderung und Versorgung aus der Balance geraten und als Folge vermutlich die Preise explodieren.

Die in den 1990er Jahren von Geologen mit wachsender Sorge geäußerten Warnungen vor einem bevorstehenden Maximum der globalen Ölförderung – als Peak Oil bezeichnet – und anschließendem Rückgang waren durch den unvorhergesehenen Fracking-Boom in den USA ab 2005 kaschiert und konterkariert worden.

Die großen Fracking-Erfolge hatten verdeckt, dass die konventionelle – die "normale" – Ölförderung aus einfacher zugänglichen Feldern schon Mitte des vergangenen Jahrzehnts weltweit den Höhepunkt erreicht und in diesem Jahrzehnt tatsächlich überschritten hat. Ein gutes Beispiel dafür ist das Nordsee-Öl, dessen Förderung seit der Jahrhundertwende trotz höchster Anstrengungen stark zurückgeht.

Die Vulgärapokalyptiker und ihre Hirngespinste

"Die Förderung von konventionellem Erdöl hat ein Maximum überschritten", erklärte mit amtlicher Autorität auch Hans-Georg Babies von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe. Schon im Januar 2012 hatten im Wissenschaftsblatt Nature der Geowissenschaftler James Murray von der Universität in Washington und der britische Regierungsberater David King die Ölförderung "jenseits des Umschlagspunkts" gesehen und der Wirtschaft erhebliche Schmerzen durch die abflachende Versorgung vorausgesagt. Der Ölmarkt sei in eine neue Phase eingetreten, schrieben die Wissenschaftler.

Solche Warnrufe machten in der Öffentlichkeit wenig Eindruck. Seit dem Fracking-Boom war die Peak-Oil-Bewegung mit Spott überhäuft worden, das Aroma der Endlichkeit war verflogen. Warnungen vor einem Rückgang der Förderung mit möglichen Versorgungslücken galten zunehmend als Hirngespinst miesepetriger Apokalyptiker.

Jetzt wird die Botschaft "Peak Oil ist tot" ausgerechnet durch eine IEA-Veröffentlichung revidiert, wobei die Kommentatoren das Reizwort "Peak Oil" vermeiden und stattdessen den Begriff "Peak Demand" verwenden, also ein Maximum der Ölnachfrage.

Peak Oil hat jedenfalls neue Aktualität erhalten: "Es wird offensichtlich, dass die Fracking-Produktion der USA den weltweiten Rückgang der konventionellen Ölförderung auf Dauer nicht ausgleichen kann", sagt der renommierte Ressourcenexperte Werner Zittel. Er hat in seinen Veröffentlichungen den Fracking-Boom stets als eine nur kurze Erholungsphase von maximal 20 Jahren betrachtet.

Eine Verdoppelung des Öl-Outputs der USA bis 2025 sei vollkommen irreal. Zittel: "Das mit Fracking gewonnene Öl aus dichtem Gestein war der verzweifelte Versuch der Branche, den Niedergang des Ölzeitalters um jeden Preis noch ein paar Jahre hinauszuschieben, nachdem in fast allen Regionen mit konventioneller Ölförderung die Förderraten zurückgehen."

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