Die Politik kämpft derzeit noch mit dem Kohleausstieg. Verbände und Forscher denken schon darüber nach, wie viel Ökoenergie sich vernünftig in Deutschland gewinnen lässt, wenn praktisch jedes geeignete Fleckchen Land für Photovoltaik oder Windkraft oder sogar beides in Anspruch genommen wird. Dazu hat die Umweltstiftung WWF am heutigen Dienstag eine Studie vorgestellt, die alle 402 deutschen Landkreise darauf untersuchte, wie viel Potenzial sie bis 2050 für den Ausbau von Wind- und Solarenergie ohne allzu große Nutzungskonflikte bieten.
Die Gretchenfrage für solche Studien ist zunächst, wie hoch der künftige Bedarf an Ökostrom für ein klimaneutrales Deutschland veranschlagt wird. Man gehe von 700 Milliarden Kilowattstunden jährlich aus, beziffert Mitautor Felix Matthes vom Öko-Institut diese Größe. Das liegt trotz wachsender Elektromobilität und der kommenden Sektorkopplung nur vergleichsweise wenig über dem heutigen Strombedarf von rund 600 Milliarden Kilowattstunden.
Die vom Öko-Institut und den Beratungsunternehmen Prognos und Bosch & Partner erarbeitete Studie plädiert dafür, dem Ausbau der Photovoltaik gegenüber dem der Windkraft ein größeres Gewicht zu geben. Hauptgrund: Besonders die Windkraft an Land ist absehbar stärker konfliktbeladen.
Laut dem entsprechenden Szenario, das die Gutachter "Fokus Solar" nennen, sollten zunächst die Dächer der Gebäude maximal mit Photovoltaik bestückt werden. Damit ließen sich jährlich bis zu 200 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugen.
Die Studienautoren schauten sich dann landkreisgenau an, wie viele Freiflächen für Photovoltaik relativ konfliktarm zur Verfügung stehen. Im Schnitt seien das bundesweit 0,4 Prozent der Fläche, auf denen sich jährlich knapp 90 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugen ließen.
Dekarbonisierung des Stromsystems vom Naturschutz her vertretbar
Für den Wind-Ausbau an Land veranschlagen die Gutachter bis 2050 rund 1,5 Prozent der Fläche Deutschlands, auf denen sich rund 240 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugen ließen. Dazu kommen dann noch einmal etwas mehr als 210 Milliarden aus Offshore-Windkraft. Zusammen könnten von Wind und Sonne klimafreundlich mehr als 700 Milliarden Kilowattstunden kommen.
Rechnet man dann – wie die Studie – den aus heutiger Sicht absehbaren Mindestbedarf für Solar- und Windenergie zusammen, ergibt sich für 2050 ein Anteil von 1,9 Prozent der Fläche Deutschlands – bei großen regionalen Unterschieden. Im Süden, vor allem in Bayern, würde allein wegen der stärkeren Sonnenscheindauer die Photovoltaik dominieren, während der Norden die Domäne der Windkraft bliebe.
Zwar haben viele Bundesländer schon jetzt das Ziel ausgegeben, zwei Prozent ihrer Landesfläche für erneuerbare Energien zu "reservieren". Laut den landkreisgenauen Erkenntnissen der Studie ist aber oberhalb eines Flächenanteils von 1,7 Prozent der weitere Ausbau "sehr, sehr schwer", wie Felix Matthes betont.
Aus seiner Sicht ist ein Windkraftausbau an Land selbst bis zu dem 1,7-Prozent-Anteil in der bisherigen Form nicht möglich. "Fläche ist die neue Währung. Das ist die eigentliche Restriktion, über die wir reden müssen", erklärt Matthes.
Die damit verbundenen Konflikte hält der Energiexperte nicht für unlösbar. Doch man brauche ein neues Denken wie zum Beispiel die kombinierte Nutzung von Flächen für Windkraft und Photovoltaik.
An Ideen zur der von Matthes angestrebten "Regionalisierung der Erneuerbaren" fehlt es nicht. So müsse es künftig darum gehen, das eigene Hausdach nicht nur dafür zu nutzen, den Eigenverbrauch zu optimieren. Wer sich künftig zum Beispiel die Installation eines Stromspeichers vom Staat bezuschussen lasse, müsse zugleich verpflichtet werden, seine Dachfläche maximal zu nutzen.
Energiewende-Studie, zweiter Teil
Bei der am Dienstag präsentierten Studie zur "Regionalisierung der erneuerbaren Stromerzeugung" handelt es sich um den zweiten Teil der großen Energiewende-Studie des WWF. Der erste Teil "Kohleausstieg 2035" war im Januar 2017 erschienen.
Parallel zum zweiten Teil veröffentlichte der WWF eine weitere Untersuchung über "Regionale Auswirkungen des Windenergieausbaus auf die Vogelwelt". Dabei wurde in sechs Landkreisen die Betroffenheit von drei Windenergie-sensiblen Vogelarten – Mäusebussard, Kiebitz und Rotmilan – untersucht.
Beim Verhältnis von Erneuerbaren-Ausbau und Naturschutz sehe seine Organisation "schwierige Konfliktlinien", räumte WWF-Klimachef Michael Schäfer ein. Klimaschutz sei zum einen auch Artenschutz, weil schon bei einer Erderwärmung von zwei Grad 25 Prozent der Arten bedroht sind. "Ohne Klimaschutz gibt es keine Chance, den Verlust an Biodiversität zu verhindern."
Zum anderen sei der Einsatz für Windkraft für einen Naturschützer aber auch eine Sache des Kopfes, bei der man sich klarmachen müsse, dass diese Energietechnologie noch eine der am wenigsten naturschädigenden sei.
Schäfer spricht sich in dem Zusammenhang dafür aus, Umweltbelastungen von Flächen künftig "kumulativ" zu bewerten. In Gebieten, wo es zum Beispiel viel Windkraft geben soll, müssten dann andere Belastungen etwa durch Pestizide zurückgenommen werden.
Als zentrales Ergebnis der aufwendigen Studie bleibt für den WWF-Mann aber die Erkenntnis, dass der Flächenbedarf, um den deutschen Stromverbrauch erneuerbar zu decken, aus naturschutzfachlicher Sicht vertretbar ist.
Der WWF schließt dabei auch den Bau von Windrädern auf Forstflächen nicht generell aus. In weniger wertvollen Kiefernwäldern könne man sich Windkraft vorstellen, bekräftigte WWF-Naturschutzexperte Albert Wotke am Dienstag. Ausgeschlossen wird Windkraft allerdings in Laubwäldern sowie auf geschützten Flächen und anderweitig wertvollen Wäldern.
Was weder der WWF noch die Gutachter für möglich halten, ist die energetische Vollversorgung Deutschlands aus erneuerbaren Quellen. Bei den 700 Milliarden Kilowattstunden gehe es allein, betonte Felix Matthes, um die Dekarbonisierung des Stromsektors. So werde für den Verkehr künftig eine "erhebliche Menge" an Wasserstoff und anderen neuartigen Brennstoffen importiert werden müssen.