Ein digitales Netz liegt über der Erde
Algorithmen steuern Industrieprozesse und programmieren Musik – in den falschen Händen bedrohen sie ganze Gesellschaften. (Foto: Pete Linforth/​Pixabay)

Künstliche Intelligenz, automatisierte Entscheidungsfindung und virtuelle Räume könnten die Welt so tiefgreifend verändern wie vor 200 Jahren, als Dampfmaschinen und fossile Energieerzeugung eine neue Gesellschaftsformation schufen. Das zeigt der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU) in der Zusammenfassung seines neuen Gutachtens "Unsere gemeinsame digitale Zukunft".

Es stellt sich die Frage, ob uns die kraftvollen technologischen Innovationen helfen können, unsere Weltprobleme der Gegenwart zu lösen. Darüber wird bisher erstaunlich wenig nachgedacht.

Stellen wir uns einmal ein positives "We-have-a-dream-Szenario" vor: Wir nutzen alle Potenziale der Digitalisierung, um die großen Herausforderungen in unseren Gesellschaften anzupacken. Digitale Instrumente werden eingesetzt, um endlich Kreislaufwirtschaften zu schaffen, Ressourcen- und Emissionsproduktivitäten zu steigern, die Treibhausgasemissionen radikal zu senken, die erneuerbaren Energien voranzubringen, die globalen Ökosysteme zu überwachen und zu schützen.

Dann setzen wir digitale Gemeingüter über eine öffentlich-rechtliche Informations- und Kommunikationstechnologie so ein, dass beispielweise künstliche Intelligenz genutzt werden kann, um unsere Bildungs- und Wissenssysteme zu modernisieren. Gleichzeitig lernen wir, unsere menschliche Intelligenz mit künstlicher Intelligenz so zu kombinieren, dass sich daraus individueller und gesellschaftlicher Fortschritt ergeben.

Oder wir schaffen so etwas wie eine öffentlich-rechtliche Alternative zu Facebook, auf der Bürger – ohne Furcht vor Totalüberwachung oder Datenentnahme – sich vernetzen und miteinander kommunizieren können.

Utopien und Dystopien liegen eng beieinander

Die realen Trends sehen anders aus. In den USA treiben private Akteure die digitalen Umbrüche voran. Sie haben Kommunikationsinfrastrukturen geschaffen, auf die niemand mehr verzichten möchte: Smartphones, weitere Gadgets, weltweite soziale Plattformen.

Doch zugleich sind dort mächtige Oligopole entstanden, die es allen Staaten schwer machen, sie angemessen zu besteuern. Damit schrumpft die Handlungsfähigkeit der Staaten.

Portraitaufnahme von Dirk Messner
Foto: Aileen Orate/​UNU-EHS

Zur Person

Dirk Messner ist Direktor des Instituts für Umwelt und menschliche Sicherheit der Universität der Vereinten Nationen (UNU-EHS) und Ko-Vorsitzender des Wissen­schaftlichen Beirats der Bundes­regierung für Globale Umwelt­veränderungen (WBGU). Er ist zudem Ko-Direktor des Käte-Hamburger-Kollegs/​Centre for Global Cooperation Research an der Universität Duisburg-Essen.

Algorithmen-basierte Systeme der großen Digitalunternehmen und die Auswertung der riesigen Datenmengen können Bürgerrechte untergraben, Zugänge zu Jobs, Versicherungen und Wissen beeinflussen oder Desinformation betreiben. Noch besorgniserregender ist die Lage, wo Digitalisierung auf autoritäre Strukturen stößt. Dann steht es schlecht um Bürgerrechte und Freiheitshoffnungen.

Deutlich wird: Digitalisierung wird neue gesellschaftliche und ökonomische Realitäten schaffen. Dabei gibt es keine Automatismen zwischen Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Utopien und Dystopien liegen eng beieinander.

Digitalisierung muss also endlich politisch gestaltet werden, um Gemeinwohlorientierung, Digitalisierung und Nachhaltigkeitstransformationen miteinander zu verbinden. Eine Trendumkehr ist notwendig.

Ziel ist eine digitale Nachhaltigkeitsgesellschaft

Deutschland und die EU sollten sich für einen UN-Gipfel zum Thema "Digitalisierung und Nachhaltigkeit" im Jahr 2022 einsetzen. Dies wäre gut 30 Jahre nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung, oft auch Erdgipfel genannt, ein wichtiger Impuls für eine Debatte für eine digitale Nachhaltigkeitsgesellschaft.

Zur Vorbereitung des vorgeschlagenen UN-Gipfels empfehlen wir die Einsetzung einer "Weltkommission für Nachhaltigkeit im Digitalen Zeitalter" nach dem Vorbild der sogenannten Brundtland-Kommission, die 1987 den Report "Unsere gemeinsame Zukunft" veröffentlichte, der bis heute weltweit das Nachhaltigkeitsdenken prägt.

Portraitaufnahme von Ina Schieferdecker
Foto: Philipp Plum/​Fraunhofer FOKUS

Zur Person

Ina Schieferdecker ist Ko-Direktorin des Fraunhofer-Instituts für Offene Kommunikations­­systeme (Fokus) und Direktorin des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft sowie Mitglied des WBGU. Zudem hat sie eine Professur an der TU Berlin für Qualitäts­kontroll­technik in offenen verteilten Systemen inne.

Ein klares Ziel muss auch sein, die Digitalisierung mit den im Jahr 2015 vereinbarten globalen Nachhaltigkeitszielen (SDGs) sowie den Zielen des Pariser Klimaabkommens in Einklang zu bringen. 

Die Bundesregierung kann im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2020 ein sehr guter Katalysator für diese Prozesse sein.

Kurz gesagt, die Digitalisierung zu zähmen, sie zu nutzen und zu gestalten, ist die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Es geht um nichts Geringeres als eine digitale Nachhaltigkeitsgesellschaft, die eine Transformation zur Nachhaltigkeit mit fairem Wohlstand für eine Weltbevölkerung von bald zehn Milliarden Menschen möglich machen wird.

Hierbei kann und muss Deutschland eine führende Rolle einnehmen.

Und schließlich geht es um eine Stärkung der Rolle der Wissenschaft: Politik muss besser gerüstet sein für plötzliche Umbrüche. Die kann niemand vorhersehen, aber mit Zukunftsszenarien für das digitale Zeitalter, einer gestärkten Technikfolgenabschätzung und einer politikbegleitenden Zukunftsforschung müssen jetzt wichtige Weichen gestellt werden.

International brauchen wir einen Wissenschaftsausschuss, der in Form regelmäßiger Sachstandsberichte die Weltgemeinschaft über die Wirkungen der rasant voranschreitenden Digitalisierung unterrichtet, ähnlich wie der Weltklimarat IPCC.

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