2020 begann mit einem Windstrom-Rekord. Dank dreier Sturmtiefs erzeugten die Windräder auf See und an Land erstmals so viel Strom wie zwei Kernkraftwerke, frohlockte der Branchenverband BWE.
Aber das war nur eine Momentaufnahme. Schon Anfang Februar musste die Bundesnetzagentur verkünden, dass sich dieselbe Branche nur mäßig für die – inzwischen vierzehnte – Windkraft-Ausschreibung interessierte. Von den angebotenen 900 Megawatt wurden lediglich 523 abgerufen – mehr als 40 Prozent der Ausschreibung liefen ins Leere.
Dass sich Deutschland in eine größer werdende Lücke beim Ökostrom manövriert, bezweifeln höchstens noch Wirtschaftsministerium und Kanzleramt. Schleppt sich der Ausbau weiter so dahin, wird Deutschland statt des regierungsoffiziellen Ziels von 65 Prozent Öko-Anteil am Stromverbrauch 2030 voraussichtlich nur 55 Prozent erreichen, macht eine jetzt veröffentliche Studie der Beratungsgesellschaft Wattsight im Auftrag des Thinktanks Agora Energiewende deutlich.
Dass die Lücke mit zehn Prozentpunkten so groß sein wird, habe die an der Studie Beteiligten sehr überrascht, erklärte Thorsten Lenck von Agora Energiewende bei einer vorösterlichen Präsentation per Webinar.
Was die zehn Prozentpunkte bedeuten, wird erst klar, wenn man sie im Zusammenhang mit dem für 2030 zu erwartenden Stromverbrauch betrachtet. Agora Energiewende rechnet in einem ersten Szenario für 2030 mit einem Stromverbrauch von 600 Milliarden Kilowattstunden, etwas mehr, als die Bundesregierung derzeit für 2030 prognostiziert. Diese "begnügt" sich nämlich mit 572 bis 587 Milliarden Kilowattstunden.
Bei dem Agora-Verbrauch von 600 Milliarden Kilowattstunden würde die Zehn-Prozentpunkte-Lücke dann 60 Milliarden betragen, weil statt der für das 65-Prozent-Ziel nötigen 390 Milliarden Kilowattstunden Ökostrom nur 330 Milliarden erzeugt würden.
In einem zweiten Szenario, bei dem deutlich mehr grüner Strom für Mobilität und Wärme genutzt würde, sieht die Agora-Studie den Stromverbrauch im Jahr 2030 bei 650 Milliarden Kilowattstunden – die Lücke würde weiter wachsen. Wie groß sie dann vermutlich wäre, beziffert die Agora-Studie nicht weiter.
Windkraft an Land entscheidende Stellschraube
Kurz vor der Präsentation des Thinktanks schätzte allerdings auch der Erneuerbaren-Verband BEE die Ökostrom-Lücke neu. Der Verband nimmt an, dass der jährliche Stromverbrauch bis 2030 auf enorme 740 Milliarden Kilowattstunden steigt und dann sogar 100 Milliarden zum 65-Prozent-Ziel fehlen. Allen Expertisen zufolge brauche es, so der BEE, deutlich mehr Strom für klimafreundliche Wärmepumpen, Elektromobilität und Power-to-X.
Sowohl der BEE als auch Agora Energiewende ließen dann jeweils ausrechnen, wie viele Tausend Megawatt Ökostrom jedes Jahr dazukommen müssten, um die Lücke bis 2030 zu schließen. Die Botschaften hinter dem Zahlenwust lassen sich in etwa so beschreiben.
Bleibt es bei den 600 Milliarden Kilowattstunden Stromverbrauch, lassen sich die 65 Prozent erreichen, wenn Wind- und Solarkraft in den kommenden Jahren ungefähr in dem Umfang ausgebaut werden, wie das zu besten Energiewendezeiten schon der Fall war.
Entscheidend ist dabei, ob der Zubau von Windkraft wieder in Gang kommt. "Nur wenn der Ausbau bei Wind an Land wieder auf jährlich 4.000 Megawatt steigt, kommen wir bei Photovoltaik mit dem derzeitigen Ausbautempo von 4.000 Megawatt hin", beschreibt Thorsten Lenck die Verhältnisse. "Hält die Zubaukrise bei Wind an Land aber an, brauchen wir jährlich 10.000 Megawatt bei Photovoltaik."
Sollte der Stromverbrauch bis 2030 allerdings auf 650 oder gar 740 Milliarden Kilowattstunden steigen, dann müssten schon die Ausbaurekorde bei Solar- und Windkraft purzeln. Bei der BEE-Prognose würde offenbar nicht einmal das reichen. Der Verband rechnet – im Unterschied zur Agora – auch mit weiterem Zubau bei Bioenergie (plus 600 Megawatt) sowie Wasserkraft und Geothermie (je 50 Megawatt). Die Agora-Studie sieht dagegen Bioenergie bis 2030 auf demselben Niveau wie heute.
Rechnet man übrigens die 740 Milliarden Kilowattstunden des BEE und dessen 100-Milliarden-Lücke zurück, kommt man für 2030 auf eine Ökostromerzeugung von rund 380 Milliarden Kilowattstunden. Der Erneuerbaren-Verband nimmt damit, wie er auch einräumt, die derzeit geltende offizielle Ökostrom-Prognose der Bundesregierung für 2030 als Ausgangswert für seine Lücken-Berechnung.
Wattsight/Agora dagegen treten diese Prognose der Bundesregierung praktisch in die Tonne. Wie es mit dem Ökostrom tatsächlich weitergeht, da scheinen sich selbst dessen glühende Befürworter ziemlich uneinig.
Ruf nach raschem Handeln – Arbeitsgruppe liegt auf Eis
Beim Webinar gab sich Lenck jedenfalls optimistisch. In allen Szenarien sei das 65-Prozent-Ziel erreichbar, sagte der Energieexperte. "Das kommt allerdings nicht von selbst. Rasches politisches Handeln ist für diese Szenarien eine wesentliche Voraussetzung", betonte er.
Handeln heißt für den Thinktank: ausreichend Flächen für Windräder, schnellere Planungen und Genehmigungen, eine Solaroffensive sowie eine ambitionierte Planung für den Ausbau von Offshore-Wind.
BEE-Präsidentin Simone Peter sagt es weniger diplomatisch. "Anstatt drängende Entscheidungen bei der Energiewende weiter auszusitzen, muss die Bundesregierung rasch bestehende Barrieren beseitigen und den längst überfälligen Fahrplan für den Ausbau der Erneuerbaren bis 2030 vorlegen", fordert sie.
Torsten Lenck sieht dabei, wie er im Webinar betonte, in der Coronakrise auch eine "große Chance", weil viele staatliche Gelder für die Wirtschaft frei gemacht würden. "Die Industrie muss hier die richtigen Impulse bekommen, nicht nur die Wertschöpfung anzukurbeln und Arbeitsplätze zu sichern, sondern auch die Klimakrise mitanzugehen." Deswegen sei sehr wichtig, die Entwicklung der erneuerbaren Energien auch in diesen Zeiten zu betrachten.
Davon ist bei der Bundespolitik nach wie vor nichts zu sehen. Die Mitte März angekündigte x-te Arbeitsgruppe aus Bundesregierung, Ländern und Koalitionsfraktionen, die den Streit um die Erneuerbaren beilegen sollte, liegt derzeit laut Medienberichten auf Eis, sie soll noch nicht einmal eingesetzt sein. Schnelles politisches Handeln gilt derzeit offenbar allein der Corona-Pandemie.