Über die Kernfusion wurden zuletzt optimistische News verbreitet. Was milliardenschwere Großforschungsprojekte seit Jahrzehnten nicht hinbekommen, wollen mit Risikokapital ausgestattete Start‑ups nun realisieren: die kommerzielle Energieerzeugung mithilfe des Verschmelzens von Atomkernen des Wasserstoffs.

Das wird immer noch Hunderte Millionen Dollar oder Euro kosten – das neue zentrale Versprechen der Start‑ups lautet aber: Wir schaffen es, in zehn bis 15 Jahren einen kommerziellen Fusionsreaktor ans Netz zu bringen.

 

Ob damit nur Demonstrationsanlagen oder schon erste kommerzielle Großkraftwerke gemeint sind, gehe aber aus den Angaben der Firmen nicht so klar hervor, merkte kürzlich Hans-Martin Henning an, Chef des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE).

Henning ist auch Mitglied im Direktorium von "Energiesysteme der Zukunft", abgekürzt Esys. Bei dem Projekt der drei deutschen Wissenschaftsakademien Acatech, Leopoldina und Akademienunion arbeiten mehr als 160 Energiefachleute mit. Ziel ist eine sichere, bezahlbare und nachhaltige Energieversorgung für morgen, so die Selbstbeschreibung.

Kommerzielle Fusion nicht vor 2045

Zum energiepolitischen Morgen rechnen viele auch die Kernfusion. Sie könne endlich für billige Energie im Überfluss sorgen, heißt es. Ob und wie die Kernfusion Baustein einer klimaneutralen Energieversorgung sein kann, dazu legten die Esys-Projekte im August ein Grundsatzpapier vor.

Darin wird der Optimismus der Start‑ups nicht so recht geteilt. Auch wenn sich die Dynamik in der Fusionsforschung beschleunigt habe, könne die Wasserstoff-Kernfusion erst in 20 oder 25 Jahren den ersten kommerziellen Strom liefern, heißt es bei Esys ziemlich eindeutig.

Entsprechend schränkt das Grundsatzpapier ein: Die künftig möglichen Fusionskraftwerke könnten "aller Voraussicht nach" nicht zum Erreichen der deutschen und europäischen Klimaziele beitragen. 2045 will Deutschland klimaneutral sein, 2050 wollen es die Länder der EU sein.

Auch, ob es überhaupt klappt, ist laut dem Esys-Papier noch nicht sicher. Es bestünden gute Chancen, die Herausforderungen der Fusion zu bewältigen, eine Gewähr oder eine Garantie dafür gebe es aber nicht, dämpfte auch Hans-Martin Henning bei einer Präsentation die Hoffnung.

Erneuerbare dürfen nicht vernachlässigt werden

Insgesamt halten die Esys-Experten ein weiteres Engagement für die Kernfusion für sinnvoll, zugleich aber dürften Entwicklung und Aufbau eines klimafreundlichen Energiesystems, vor allem unter Nutzung der Erneuerbaren, nicht vernachlässigt werden. Beide Strategien sollten sich ergänzen, fordert das Grundsatzpapier.

Das Start‑up Focused Energy in Darmstadt verfolgt ein laserbasiertes Fusionskonzept aus den USA. Die Forschung an der Laserfusion hatte bisher einen militärischen Hintergrund. (Bild: Focused Energy)

Für den Physiker Henning könnten Fusionskraft und Erneuerbare sogar einmal "Hand in Hand" gehen. In einem klimaneutralen, von Erneuerbaren bestimmten System mitzuhalten, wird für die Kernfusion aber keineswegs leicht sein. Auch dafür liefert das Esys-Papier Fingerzeige.

So werden Fusionskraftwerke keine Superanlagen sein, sondern um die 1.000 Megawatt Stromleistung haben, vergleichbar heutigen Atom- oder Braunkohlekraftwerken. Und wie diese wird auch der Fusionsreaktor erst einmal das Zwei- bis Dreifache an Wärmeleistung erbringen, die dann in Elektrizität umgewandelt werden muss. Effizient ist Fusionsenergie nicht.

Und wie bisherige Atom- und Kohlemeiler müssen auch Kernfusionskraftwerke am besten Tag und Nacht durchlaufen, um preiswert Strom zu erzeugen. Diese fehlende Flexibilität sehen die Esys-Fachleute als ein Hauptproblem an.

Fusionskraftwerke werden um 2050 herum in Deutschland und Europa voraussichtlich auf ein weitreichend umgestaltetes Energiesystem treffen, das dezentraler organisiert sein und auf erneuerbaren Energien basieren wird, heißt es in der Stellungnahme.

Fusionskraftwerke brauchen Anwendungen mit hohem Strombedarf

Und weiter: Ist genügend Flexibilität im System vorhanden, etwa durch Strom- und Wärmespeicher, Lastmanagement und Digitalisierung, ließen sich Fusionskraftwerke in das System integrieren. Eine Notwendigkeit für die sichere und verlässliche Energieversorgung der Zukunft stellten Fusionskraftwerke aber nicht dar, halten die Esys-Experten gleichzeitig fest.

Kurz gesagt: Ist das erneuerbare System gut genug, verkraftet es auch dieses oder jenes Fusionskraftwerk. Und auch dies gilt offenbar: Kernfusion können wir haben, müssen wir aber nicht.

Henning wie auch andere Esys-Fachleute sehen die Fusions-Zukunft denn auch eher in Anwendungen, bei denen die Kraftwerke mit voller Kraft arbeiten können. Dabei haben sie Bereiche mit hoher Stromnachfrage im Blick wie die Elektrolyse von Wasserstoff, die Herstellung synthetischer Brenn- und Rohstoffe oder die CO2-Entnahme aus der Atmosphäre per Direct Air Capture (DAC) – alles in großem Maßstab, versteht sich.

So erzeugter Wasserstoff könnte sogar als "grün" gelabelt werden, weil Kernfusion vergleichsweise geringe CO2-Emissionen verursacht. Dass das aufwendige Verschmelzen von Wasserstoff-Atomen dafür gut sein könnte, Wasserstoff zu erzeugen, gehörte nicht zu den Gründen, aus denen die Fusionstechnik einst erdacht wurde.

Aus Sicht von Esys wäre es auch gut, solche Fusionskraftwerke gleich an Küsten zu errichten, damit sie ihren eigenen Wasserbedarf wie den für die Elektrolyse per Meerwasserentsalzung decken können.

Fusionsentwicklungen können industrielle Impulse geben

Weil die Energieerzeugung noch mit vielem Wenn und Aber verbunden ist, gewinnt in der Debatte ein weiterer Förderzweck der Kernfusionstechnik an Bedeutung. Die Entwicklung von Fusionsanlagen könne auch einen "industriellen Impuls" geben, betonte Peter Schroth, Leiter des Referats Fusionsforschung im Bundesforschungsministerium, bei der Vorstellung des Esys-Papiers.

Gerade die optische und die Laser-Industrie, wo Deutschland zu den weltweit führenden Ländern gehöre, könnten dank Fusionstechnik einen Schub erhalten, waren sich die Experten einig. Schroth sprach sogar optimistisch von einem "gigantischen Industrialisierungsprozess".

Bis 2028 stellt das Forschungsministerium nach seinen Angaben eine Milliarde Euro für die Fusionsforschung bereit. "Im Moment sehen wir eine Entwicklung, von der wir glauben, dass sie es uns ermöglichen wird, in absehbarer Zeit Fusionskraftwerke zu realisieren", fasste Peter Schroth das Wenn und Aber zusammen.

Wie für Esys hängt auch für Schroth die Zukunft nicht davon ab, ob es mit den Fusionskraftwerken klappt oder nicht. Auch werde man bei der Nutzung der Erneuerbaren nicht auf die Fusionsenergie warten, sagte er.

Hier will die Ampel in der Energiepolitik offenbar mal dem Rat der Fachleute folgen.