Die Geschichte der Atomenergie in Deutschland hat ein neues, unerfreuliches Kapitel bekommen: Die Hochtemperatur-Kernkraftwerk GmbH (HKG), Betreiberin des seit Jahrzehnten stillgelegten Reaktors im nordrhein-westfälischen Hamm, ist insolvent.
Das Amtsgericht Dortmund bestellte den Dortmunder Anwalt David Bunzel zum vorläufigen Insolvenzverwalter. Ziel ist es, den "sicheren Einschluss" des Reaktors weiterzuführen und den geplanten Rückbau vorzubereiten. Doch die Sorge wächst, dass am Ende der Bund tief in die Tasche greifen muss, um die nukleare Altlast zu beseitigen.
Der Thorium-Hochtemperaturreaktor THTR‑300, gebaut von 1974 bis 1983, galt einst als Hoffnungsträger der deutschen Atomtechnik. Er arbeitete mit kugelförmigen Brennelementen, die durch den sogenannten Kugelhaufen-Kern zirkulierten, umgeben von Grafitstrukturen. Gekühlt wurde der Reaktor mit Heliumgas.
Das Konzept versprach mehr Sicherheit als die üblichen Druckwasser-Reaktoren – durch die stabile Beschichtung der Brennstoffkugeln sollte ein Durchschmelzen ausgeschlossen sein. Außerdem hoffte man, dass die hohen Betriebstemperaturen die Effizienz steigern und die Technologie fit für die Zukunft machen würden.
Die Realität sah ernüchternd aus. Nach der ersten Netzkopplung 1985 und der offiziellen Inbetriebnahme 1987 kam der Reaktor nie über kurze Betriebsphasen hinaus. Bereits im September 1988 wurde er endgültig stillgelegt. In den vier Jahren Laufzeit summierte sich die Volllastzeit auf ganze 423 Tage. Dazu kam eine ungewöhnlich hohe Zahl von Störungen: 125 meldepflichtige Ereignisse, zum Teil in Abständen von nur wenigen Tagen.
AKW-Rückbaukosten könnten bei einer Milliarde liegen
Ein Vorfall vom Mai 1986 machte den THTR bundesweit bekannt: Wenige Tage nach der Tschernobyl-Katastrophe kam es in Hamm zu einer Freisetzung radioaktiver Partikel, ausgelöst durch ein Problem in der Brennelement-Beschickung. Der Betreiber spielte den Vorfall herunter, Kritiker warfen ihm Vertuschung vor. Offiziell hieß es, die Partikel hätten keine Gesundheitsgefahr dargestellt – das Vertrauen vieler Anwohner war dennoch erschüttert.
Auch technisch zeigten sich bald die Grenzen der vermeintlichen inhärenten Sicherheit. Bei einem Verlust des Helium-Kühlmittels, so ergaben Berechnungen, könnten Temperaturen von über 2.000 Grad erreicht werden – genug, um die Brennstoffhüllen zu zerstören und Radioaktivität freizusetzen.
Atomkraft und Erdgas bleiben "grün"
Im Jahr 2022 stufte die EU in ihrer umstrittenen Taxonomie-Entscheidung Kernenergie und Erdgas als nachhaltig ein. Österreich klagte dagegen. Im September unterlag das EU-Land jedoch in allen Punkten vor dem Europäischen Gericht in Luxemburg. Obwohl Atomkraft sehr teuer und Erdgas nicht klimafreundlich ist, gelten Investitionen in diese Energieformen nun weiter als "grün". (mb)
Probleme bereitete zudem die Materialbelastung im heißen Heliumkreislauf, wo Korrosionserscheinungen schneller auftraten als erwartet. Viele Komponenten funktionierten im großtechnischen Maßstab nicht so zuverlässig wie im Versuchsreaktor im damaligen Kernforschungszentrum Jülich, auf dessen Erfahrungen man sich gestützt hatte.
Wirtschaftlich war das Projekt ein Desaster. Die Baukosten explodierten, die Betreiberfirma HKG geriet schon in den 1980er Jahren in Schieflage. Ohne staatliche Finanzspritzen wäre das AKW nie ans Netz gegangen.
Nach der Stilllegung einigte man sich auf den "sicheren Einschluss" – eine jahrzehntelange Phase, in der der Reaktor zwar stillsteht, aber noch nicht abgebaut wird. Die Brennelemente wurden in den 1990er Jahren in das Zwischenlager Ahaus gebracht, die Anlage selbst wartet bis heute auf den Abbruch. Eigentümer der HKG sind RWE Nuclear und die Stadtwerke Bielefeld, Hagen, Wuppertal und Aachen.
Offiziell ist vorgesehen, 2028 mit dem Rückbau zu beginnen, der rund 20 Jahre dauern soll. Laut einer Schätzung der nordrhein-westfälischen Landesregierung aus dem Jahr 2021 liegen die Rückbaukosten bei rund 750 Millionen Euro, unter Einrechnung von Inflation und möglichen Preissteigerungen könnte es bis zu einer Milliarde werden.
Wer zahlt, zeichnet sich nach der Insolvenz ab. Das Land Nordrhein-Westfalen ist raus, denn es konnte sich im Sommer in einem Prozess vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf gegen die HKG durchsetzen. NRW muss keine zusätzlichen Zahlungen über die Altverträge hinaus leisten.
Damit steigt der Druck auf den Bund als gesetzlich Verantwortlicher für nukleare Sicherheit, Lösungen zu finden. Eine automatische Kostenübernahme ist rechtlich zwar nicht vorgegeben, doch politisch dürfte ein Einstieg des Bundes kaum vermeidbar sein – und damit der Steuerzahler.
