Im Braunkohlekraftwerk Jänschwalde beginnen im Sommer die Vorbereitungen, 1.000 Megawatt in die "Sicherheitsbereitschaft" zu verschieben, hat der Betreiber Leag jetzt mitgeteilt.  (Foto: GuenterHH/​Flickr)

Eine der beliebtesten Entschuldigungen, warum Deutschland sein Klimaziel für 2020 verfehlt, geht so: Wegen des Atomausstiegs müssen leider die Kohlekraftwerke länger laufen. Und die daraus resultierenden Mehr-Emissionen können die Erneuerbaren leider nicht auffangen – wer mehr Klimaschutz will, muss also die AKW länger laufen lassen, und wer das aus Sicherheitsgründen ablehnt, muss eben in den sauren Apfel mit dem Kohlestrom beißen ...

Dass inzwischen wieder ernsthaft über eine Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke gesprochen wird, erboste am heutigen Freitag auch Hubert Weiger, den Vorsitzenden des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Weiger stellte in Berlin ein Konzept seines Ökoverbandes vor, das man ruhig als letzten Appell an die Bundesregierung verstehen kann, wie mit einem Kohleausstieg das Klimaziel für 2020 doch noch einzuhalten wäre. Zugleich hält der BUND auch einen schnelleren Atomausstieg für möglich, und beides sogar "ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden", wie Weiger betonte.

Ein rascheres Abschalten der Atomreaktoren will der Umweltverband erreichen, indem das bisher mögliche Übertragen zu erzeugender Strommengen von einem auf ein anderes AKW unterbunden wird. Damit würden, so Weiger, alle AKW in Deutschland zusammengerechnet zehn Jahre weniger laufen.

Zudem würden 3.000 Tonnen hoch radioaktiver Atommüll weniger in die Welt gesetzt, wobei man bis heute in Deutschland nicht weiß, wo "ein einziges Gramm" dieses Mülls endgelagert werden soll, wie der BUND-Chef anmerkte.

Weiger sieht im Atomstrom auch ein "permanentes" Hindernis für den Ausbau der Erneuerbaren, besonders der Windkraft. Immer häufiger würden BUND-Mitglieder anfragen, warum AKW fleißig Strom produzierten, sich in der gleichen Gegend aber kein Windrad drehe, obwohl der Wind ausreichend stark wehe. "Je früher wir aus der Atomkraft aussteigen, umso besser ist das für die Erneuerbaren", sagte Weiger.

Nordrhein-Westfalen am stärksten betroffen

Bei der Kohle läuft der Abschaltplan des Umweltverbandes im Kern darauf hinaus, alle vor 1990 in Betrieb gegangenen Anlagen bis 2020 vom Netz zu nehmen. Das Alter der Anlagen bringt nicht nur mit sich, dass die klimaschädlichsten vom Netz gehen, der Verband hofft auch, dass die Stilllegung dann möglichst entschädigungslos über die Bühne gehen kann.

Dabei wäre Nordrhein-Westfalen, wo mehr alte und mehr Steinkohle-Blöcke stehen, ungleich stärker betroffen als die Lausitz oder andere Reviere.

In Zahlen stellt sich die Halbierung so dar: Von den 42.000 Megawatt Stein- und Braunkohlekraft des Jahres 2017 gehen bis 2020 rund 12.000 Megawatt Steinkohle und rund 10.000 Megawatt Braunkohle vom Netz. Nach BUND-Angaben geht es dabei um die Stilllegung von 35 Steinkohle- und 23 Braunkohle-Blöcken.

Davon würden 13 ohnehin von Netz gehen, weil sie bereits vom Betreiber zur Stilllegung angemeldet sind oder durch die sogenannte Sicherheitsbereitschaft bei der Braunkohle (2.700 Megawatt) bereits aus dem Rennen sind. Es blieben also 45 "erzwungene" Stilllegungen, die die gesamte Kohle-Kapazität dann bis 2020 auf 20.000 Megawatt absenken.

"Klimalücke" lässt sich so gut wie möglich schließen

Das würde laut BUND ausreichen, um bis 2020 die energiebedingten Emissionen um etwa 100 bis 115 Millionen Tonnen jährlich zu verringern und die "Klimalücke" so gut wie möglich zu schließen. Diese liegt derzeit bei rund 150 Millionen Tonnen.

Allerdings gilt auch: "Der Stromsektor trägt die Klima-Bürde", wie BUND-Energieexpertin Tina Löffelsend die inzwischen eingetretene Alternativlosigkeit beschrieb, wenn die nationalen Klimaziele noch mit Ach und Krach eingehalten werden sollen. Für 2020 sagte Weiger übrigens am Freitag ein Verfehlen des Ziels – minus 40 Prozent CO2-Emissionen gegenüber 1990 – um glatte zehn Prozentpunkte voraus, sofern das BUND-Konzept nicht umgesetzt wird.

Für die Folgejahre lauten dann die Zielmarken des Umweltverbandes: Im Jahr 2023 bleiben noch 7.000 Megawatt Braunkohle und 7.000 Megawatt Steinkohle übrig, Atomstrom liegt bei null. Bis 2030 wäre der Kohleausstieg vollzogen.

Um das bei der Stromversorgung auszugleichen, fordert das BUND-Konzept, jährlich mindestens 6.000 Megawatt Windkraft an Land auszubauen sowie in den ersten Jahren 6.000 und später 7.000 Megawatt Photovoltaik.

Grafik zum Kohle- und Atomausstieg
Das deutsche und europäische Stromsystem hat genügend Reserven (Grafik vergrößern), um einen schnelleren Atom- wie Kohleausstieg zu verkraften, errechnete der Umweltverband. (Grafik: BUND)

Gegenüber bisher bekannten, ähnlichen Ausstiegskonzepten bietet das der Umweltschützer zwei neue Aspekte. Zum einen nahmen sich die BUND-Experten auch das häufige Gegenargument der Kohlebranche vor, dass viele der Kraftwerke ja auch unverzichtbare Wärme für Kommunen und Industrie erzeugten.

Bei der Steinkohle würden bei raschem Abschalten bis 2020 insgesamt 13 Blöcke oder 1.700 Megawatt betroffen sein, die auch Wärme erzeugen. Hier schlägt der BUND ein partielles Weiterlaufen vor, sofern die Wärme benötigt wird. Teilweise müsste Ersatz auf (erneuerbarer) Gasbasis oder als KWK-Anlage gebaut werden.

Der Umweltverband schaute sich auch an, wie sich Atom- und Kohleausstieg auf die Versorgungssicherheit auswirken. Messlatte ist die aus Sicht der Netzbetreiber zu sichernde Jahreshöchstlast von 81.000 bis 82.000 Megawatt. Unter der Annahme, dass die Erneuerbaren schneller ausgebaut werden und im Fall der Fälle auf nationale wie europäische Strom-Reserven zurückgegriffen werden kann, kommt der BUND zum Ergebnis, dass sowohl 2020 als auch 2023 diese Höchstlast gesichert werden kann – nur bei ganz ungünstigen Umständen könne es knapp werden.

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