Ökostrom-Anlagen in Deutschland haben in der ersten Hälfte dieses Jahres so viel Strom produziert wie nie zuvor. Knapp 56 Prozent des Stroms, der aus der Steckdose kommt, stammt aus erneuerbaren Quellen. Das geht aus Zahlen der Datenplattform Energy Charts des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) in Freiburg hervor.
Im ersten Halbjahr produzierten Sonne, Wind, Wasser und Biomasse demnach gut 136 Milliarden Kilowattstunden und speisten sie ins öffentliche Netz ein, wobei der Großteil – 75 Milliarden – von Windenergie-Anlagen kam.
Das sind elf Prozent mehr als im ersten Halbjahr des Vorjahres. Verantwortlich dafür waren vor allem die zahlreichen Winterstürme.
Trotz der Rekordzahlen ist die Branche beunruhigt. Der Windkraft-Ausbau und die Genehmigung neuer Windkraftanlagen stünden weiter weitgehend still, klagt der Branchenverband BWE. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres seien lediglich Windanlagen mit einer Gesamtnennleistung von 513 Megawatt neu ans Netz gegangen und 878 Megawatt neu genehmigt worden. Im Rekordjahr 2017 waren dagegen mehr als 5.000 Megawatt hinzugekommen.
"Nicht nur bei Genehmigungen und Zubau, auch bei der Umsetzung der ohnehin zu geringen Zuschläge aus Ausschreibungen stehen wir vor einem Desaster", sagte BWE-Präsident Hermann Albers. In den Jahren 2017 bis 2019 habe die Bundesnetzagentur mehr als 9.000 Megawatt Windkraft an Land ausgeschrieben. "Dafür wurden nur 7.009 Megawatt bezuschlagt", so Albers.
"Noch schlimmer aber ist, dass bis Mai 2020 lediglich 1.700 Megawatt dieser Zuschläge ans Netz gekommen sind", warnte der BWE-Chef. Er forderte einen neuen Aufbruch, um die Windenergie als "tragende Säule der Energiewirtschaft der Zukunft" zu verankern.
Stromhändler fordern neuen Rahmen für Solarausbau
Solarstromanlagen speisten im ersten Halbjahr fast 28 Milliarden Kilowattstunden in das öffentliche Netz ein, elf Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Auch hier führten günstige Wetterverhältnisse zu einer überdurchschnittlichen Produktion.
"Bei der Photovoltaik haben sich die Zahlen in den letzten Jahren zwar schrittweise verbessert", sagte Robert Busch vom Bundesverband Neue Energiewirtschaft (BNE). "Wir müssen aber sehr viel besser werden, damit die Photovoltaik den erforderlichen Beitrag zur Energieversorgung und zum Klimaschutz leisten kann."
Um den Ausbau zu beschleunigen, schlägt der BNE vor, die Größe der EEG-geförderten Solaranlagen anzupassen. Für Dachanlagen sollte ein eigenes Ausschreibungssegment eingeführt werden, der Mieterstrom müsste gestärkt und eine Pflicht für Solaranlagen bei Neubauten eingeführt werden – sowie es Baden-Württemberg ab 2022 für Nicht-Wohngebäude eingeführt hat. Auch der sogenannte atmende Deckel müsse angepasst werden, damit wieder mehr Ausbau stattfindet.
"Die bevorstehende EEG-Novelle muss genutzt werden, um die Rahmenbedingungen der erneuerbaren Energien wieder zu verbessern", sagte Busch gegenüber Klimareporter°. Dazu zählt der BNE-Geschäftsführer auch einen neuen Rahmen für einen marktgetriebenen Ausbau. "Hier ist die Kostenentwicklung der erneuerbaren Energien sehr hilfreich, ebenfalls hilfreich sind höhere CO2-Zertifikatspreise sowie Wertsteigerungen von Herkunftsnachweisen".
Gaskraftwerke ersetzen Kohlekraftwerke
Beinahe gleich blieb mit fast 24 Milliarden Kilowattstunden die produzierte Strommenge aus Biomasse. Wasserkraft ging um neun Prozent auf 9,5 Milliarden Kilowattstunden zurück. Auch die produzierte Strommenge aus Atomkraftwerken sank – um fast 13 Prozent auf 30 Milliarden Kilowattstunden.
Noch viel stärker fiel der Rückgang bei der Kohlestromproduktion aus. Braunkohlekraftwerke produzierten im ersten Halbjahr rund 34 Milliarden Kilowattstunden, über ein Drittel weniger als noch im Vorjahreszeitraum. Bei Steinkohlekraftwerken brach die Nettoproduktion sogar um 46 Prozent auf 14 Milliarden Kilowattstunden ein.
Laut Frauhofer ISE liegt der starke Rückgang des Kohlestroms an den gestiegenen Preisen für CO2-Zertifikate und niedrigeren Börsenstrompreisen – das verringere die Wirtschaftlichkeit der Kohlekraftwerke. An ihrer Stelle kämen immer häufiger Gaskraftwerke zum Einsatz.
Die Gaskraftwerke produzierten im ersten Halbjahr 2020 mit 28 Milliarden Kilowattstunden beinahe 14 Prozent mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum. Der deutliche gesunkene Preis für Erdgas führte mit dem gestiegenen Zertifikatepreis zu einem "Fuel Switch" von Kohle zu Erdgas.
"Kohleausstiegspfad zu langsam für Paris-Ziel"
Während die gegenwärtigen Bedingungen dafür sorgen, dass Kohlestrom derzeit wenig rentabel ist, soll morgen der Ausstieg aus der Kohleverstromung in Deutschland gesetzlich verankert werden. Das Gesetz geht für BNE-Chef Busch an der Realität vorbei.
"Zum einen ist der Kohleausstiegspfad viel zu langsam", sagt Busch. Das vorgesehene Tempo mache es unmöglich, die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Zum anderen sei klar, dass mit steigenden CO2-Preisen und einem stärkeren Ausbau erneuerbarer Energien der Kohlestrom zu teuer werde.
Bei dem Gesetz handelt es sich aus Sicht von Busch um unnötig teure Palliativmaßnahmen mit viel Geld, das beim angestrebten klimafreundlichen Wiederaufbau der Wirtschaft noch bitter fehlen werde. "Der erste Schritt muss daher die deutliche Anhebung der Klimaschutzziele der EU sein", fordert er. Schnell folgen müsse dann eine entsprechende Novellierung des Europäischen Emissionshandelssystems ETS mit einem deutlich stärkeren Degressionspfad bei den Emissionen.
Zu beachten ist, dass das Fraunhofer ISE in seiner Datenübersicht zur Stromeinspeisung ins Netz die Nettostromerzeugung bilanziert. Außen vor bleibt dabei die produzierte Strommenge für den Betrieb von Kraftwerken, aber auch von verarbeitendem Gewerbe zur Eigenstromversorgung.
Diese Strommengen werden bei der Bruttostromerzeugung berücksichtigt. Wie der Thinktank Agora Energiewende in dieser Woche mitteilte, lag der Anteil der Erneuerbaren an der gesamten Bruttostromerzeugung im ersten Halbjahr dieses Jahres erstmals über 50 Prozent.