Der Sicherheitszaun sowie die Kühltürme des AKW Temelín in Tschechien.
Temelín ist das größte Atomkraftwerk in Tschechien. (Foto: Pavel Veselý/​Wikimedia Commons)

Die Produktion von Atomstrom in der EU ist 2017 auf den niedrigsten Stand seit 1992 gefallen. Trotz dieses Trends, der seit rund einem Jahrzehnt beobachtet werden kann, wollen mehrere Staaten an der Atomkraft festhalten. Besonders ausgeprägt ist die Hinwendung zur Atomkraft in Osteuropa: Polen, Ungarn, die Slowakei und die Tschechische Republik wollen neue Reaktoren bauen und begründen die Vorhaben mit Versorgungssicherheit.

Noch sind die Vorhaben in der Planungsphase – wenn auch unterschiedlich weit fortgeschritten. Ab 2027 sollen die neuen Atom-Reaktoren in Ungarn und der Slowakei Strom erzeugen, Polen und Tschechien rechnen ab 2035 mit der Inbetriebnahme der atomaren Kraftwerkskapazitäten. Insgesamt sollen in den vier Visegrád-Staaten neue nukleare Kapazitäten von 16.000 Megawatt geschaffen werden – ungefähr so viel, wie in Deutschland bis 2020 abgeschaltet werden sollen.

Für Nils Müller ist das auf EU-Ebene ein energiepolitisches Nullsummenspiel. "Der Effekt des deutschen Atomausstiegs wird damit zunichtegemacht", meint der Vorstand des Ökostromanbieters Greenpeace Energy. Durch Stromimporte würde der Atomstrom auch in Deutschland landen und zu Verzerrungen des Strommarkts führen. Ökostrom drohe verdrängt zu werden, warnt Müller.

Dabei planen die Visegrád-Staaten mit Stromgestehungskosten für die AKW-Vorhaben von bis zu 80 Euro je Megawattstunde. Dass die angenommenen Produktionskosten kaum der Wirklichkeit entsprechen, illustrieren schon laufende Bauvorhaben in Großbritannien und Frankreich. Die geplanten Kosten für den Bau eines Europäischen Druckwasserreaktors EPR in Flamanville in der Normandie haben sich bisher mehr als verdoppelt und liegen nun zwischen 90 und 125 Euro je Megawattstunde. Auch Großbritannien garantiert den Bau von Hinkley Point C mit Subventionen von 119 Euro pro Megawattstunde.

In der Literatur finden sich dagegen häufig Preise zwischen 55 und 80 Euro pro Megawattstunde – für Fabian Huneke vom Berliner Analyse-Institut Energy Brainpool sind das allenfalls theoretische Annahmen, die nicht annähernd mit den tatsächlichen Stromgestehungskosten zusammenpassen. Warum Reaktorprojekte in osteuropäischen Staaten bei gleichem Sicherheitsstandard günstiger als in Frankreich oder Großbritannien werden sollen, leuchtet Analyst Huneke nicht ein.

"Die Kosten werden nicht ehrlich kalkuliert"

Ob die Erneuerbaren bei den Gestehungskosten mit der Atomkraft konkurrieren können, hat Huneke im Auftrag des Ökostromanbieters Greenpeace Energy untersucht. Dafür verglich er die Kosten eines verlässlich steuerbaren Energiesystems aus erneuerbaren Energien mit den angenommenen Kosten der geplanten AKW-Projekte. Eine Komponente des steuerbaren erneuerbaren Kraftwerkssystems sind Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen, deren Überschussstrom per Elektrolyse in Wasserstoff umgewandelt wird – und dann gasförmig gespeichert und bei Bedarf wieder in Strom umgewandelt werden kann.

Die Gestehungskosten liegen laut Energy Brainpool zwischen 112 und 128 Euro je Megawattstunde in Polen, Tschechien und Ungarn. In der Slowakei, wo die Finanzierungsbedingungen für Erneuerbare schlechter sind, kommt der Experte auf 167 Euro je Megawattstunde. Damit wäre ein solches Kraftwerkssystem konkurrenzfähig mit den geplanten Atomreaktoren. Würden die vier Visegrád-Staaten bei der Energiepolitik stärker zusammenarbeiten, könnten die Kosten für das erneuerbare System auf 100 Euro je Megawattstunde Strom sinken, meint Huneke.

Warum die Atomkraftwerke trotz der hohen Kosten in Osteuropa gebaut werden sollen, liegt für Greenpeace-Energy-Vorstand Müller auf der Hand: "Die Atomlobby ist riesig." Die Kosten der Atomkraft würden nicht ehrlich kalkuliert, sagt Müller. Das AKW Paks in Ungarn sei unwirtschaftlich, trotzdem will Russland zwei neue Reaktoren bauen. Das zeige, wie groß die Macht der Atomkonzerne immer noch sei.

Hinzu kommt: Bei allen wirtschaften Berechnungen bleiben die Gefahren durch Unfälle und die Kosten für die Endlagerung außen vor. Belastbare Zahlen dafür liegen nicht vor. "Der Jahrestag von Tschernobyl mahnt, dass die Atomkraft ehrlich betrachtet nicht nur immense Kosten, sondern auch unbeherrschbare Risiken beinhaltet", sagt Nils Müller.

Am 26. April 1986 explodierte Block 4 im Atomkraftwerk Tschernobyl. Riesige Mengen an Radioaktivität wurden freigesetzt, bis heute ist die Reaktorruine ein Sicherheitsrisiko.

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