Nun wird im Osten, was sonst Königen, Kriegen und Regierungen vorbehalten ist, die Kohlegeschichte durchnummeriert.
Nach der Wende habe für ihn innerhalb weniger Wochen der "Kohleausstieg eins" stattgefunden, startete Gero von Daniels kürzlich die Zählung.
Von Daniels ist seit 2016 Chef der Bund-Länder-Geschäftsstelle für die Braunkohlesanierung (GS Stuba). Diese schaut zurzeit darauf, wie die 1,44 Milliarden Euro des inzwischen siebten Verwaltungsabkommens ausgegeben werden. Mit dem Geld werden vor allem die Altlasten der DDR-Braunkohleförderung bewältigt.
Von Daniels tritt eher selten öffentlich auf. Noch seltener äußert er sich zum Braunkohleausstieg.
So konnten die Grünen im Bundestag kürzlich recht glücklich sein, dass der Chef nicht nur an einem Fachgespräch übers Sanierungsgeld teilnahm, sondern dort auch über den Kohleausstieg sprach.
Als Thema hatte die Grünen-Fraktion dem Gespräch gegeben: "Bergbaufolgen: Was kostet uns ein Tagebau?"
Braunkohlesanierung sollte in 20 Jahren erledigt sein
Leider geht es nicht nur um einen Tagebau. Die DDR betrieb nahezu 40 davon, um Braunkohle zu fördern. In der Lausitz sind noch drei in Betrieb und im Revier Halle/Leipzig noch zwei.
Als nach der Einheit Bund und Länder begannen, sich mit den Folgen des DDR-Braunkohlebergbaus zu beschäftigen, hätten sie sich gegenseitig versichert, die Sanierung werde so ungefähr zehn bis zwanzig Jahre dauern, erinnerte sich Gero von Daniels beim Fachgespräch.
Ab 2010 sei der Bund dann "unruhiger" geworden. Eine Evaluation habe schließlich klargestellt: Mit zehn oder zwanzig Jahren ist es lange nicht getan, eher wird die Sanierung der DDR-Braunkohle bis 2070 oder 2080 dauern, so erzählte es der zuvor als Rechtsanwalt tätige Jurist.
Allein das sei schon eine "Jahrhundertaufgabe", betonte von Daniels. Und auch danach verblieben noch sogenannte Ewigkeitslasten, über deren Kosten und zeitlichen Horizont man noch nichts wisse.
Und parallel dazu stehe im Osten jetzt noch, setzte von Daniels die Zählung fort, der "Kohleausstieg zwei" an: die Einstellung der Braunkohleförderung bei der Lausitz Energie AG (Leag) und der nahe Leipzig aktiven Mibrag GmbH.
Ob die letzten Kraftwerke dort 2030 oder 2038 abgeschaltet werden, ist für den Sanierungsverantwortlichen gar nicht so relevant, gab er zu erkennen. Denn bis auch diese Tagebaue saniert seien, werde es ohnehin deutlich länger dauern als gemeinhin angenommen, sagte er in die grüne Runde.
Präziseste Kostenschätzung: "zweistelliger Milliardenbetrag"
Weist etwas so sehr in die Zukunft, ist es schwer, die Kosten für die gesamte, den Ausstiegen eins und zwei folgende Braunkohlesanierung Ost auch nur zu abschätzen. Mehr als die Schätzung eines "zweistelligen Milliardenbetrags" bekam man auch beim Fachgespräch nicht zu hören.
Zweistellig klingt schon realistisch. Laut einer Statistik der deutschen Kohlewirtschaft wurden durch die Braunkohle im Lausitzer und im Revier Halle/Leipzig bis jetzt rund 160.000 Hektar in Anspruch genommen, eine Fläche dreimal so groß wie der Bodensee.
Davon sind laut Verbandsangaben rund 57.000 Hektar noch nicht rekultiviert, harren also noch der Sanierung. Wie viele Hektar die fünf noch laufenden Tagebaue bis zum Abschalten des letzten Braunkohle-Kraftwerks "hinzutun" werden, ist nicht bekannt.
Was die Sanierung so kostet, dazu gibt es eine brauchbare Angabe von der zuständigen Bund-Länder-Sanierungsgesellschaft LMBV. Mit einem Aufwand von zwölf Milliarden Euro habe sie bisher 100.000 Hektar saniert, teilte der Ost-Braunkohle-Sanierer Ende 2022 mit.
Derzeit verfolgt die LMBV unter anderem ein Sanierungsprojekt für 19 sogenannte Innenkippen mit einer Fläche von zusammen rund 44.400 Hektar.
Rechnet man allein die 57.000 noch nicht rekultivierten Hektar hinzu, landet man schon wieder bei mindestens 100.000 Hektar oder Kosten von wenigstens zwölf Milliarden Euro, also bei einem zweistelligen Betrag. Preiswerter wird's wohl nicht.
Reform des Bergrechts bleibt ein Wunsch
Vor der Hacke ist es duster, sagen die Bergleute. So fühlte sich der Zuhörer beim Fachgespräch, nicht nur bei den Kosten.
Was steht genau in den Sanierungsverträgen der Ost-Kohleländer mit Leag und Mibrag? Wie groß sind die Rückstellungen? Wie werthaltig sind diese? Wem gehören überhaupt welche Flächen? Wie ist deren Zustand? Nach welchen Standards soll saniert werden? Was kostet das alles die öffentliche Hand? Das alles sind derzeit große Unbekannte in der Braunkohle-Folgekostenrechnung.
Das größte Problem ist die mangelnde Transparenz, brachte es Roda Verheyen im Fachgespräch auf den Punkt. Darüber rede sie schon seit zehn Jahren, setzte die unermüdliche Anwältin hinzu, jüngst bei der deutschen "Klimaklage 2.0" in Aktion.
Auch das gesetzgeberische Hauptproblem ist für Verheyen in den zehn Jahren das gleiche geblieben: das Bundesberggesetz.
Dieses sei von dem Geist geprägt, so ein Tagebau sei nichts anderes als eine Kiesgrube. In dem Gesetz regiere noch immer der Glaube, Bergbaufolgen könnten mit Rücklagen für 20 Jahre bewältigt werden, kritisierte die Juristin.
Das Bergrecht zu modernisieren, hat sich die Ampel zwar als Vorhaben in den Koalitionsvertrag geschrieben, ernsthaft glaubt aber niemand an eine Umsetzung, zumal dabei auch die Länder mitspielen müssten.
Eine Reform des Bergrechts sei in der Koalition "nicht trivial", kommentierte Wirtschaftsstaatssekretär Michael Kellner im Fachgespräch den offensichtlichen Stillstand nur kurz.
Ost-Braunkohle-Stiftung ohne Alternative
Dass unter derart unwägbaren Rahmenbedingungen Grünen-Abgeordnete der Ost-Kohleländer vor einiger Zeit ein Konzept für eine ostdeutsche Braunkohlestiftung vorlegten, ist offensichtlich mutig, aber angesichts der Größe der Aufgabe und der langen Zeiträume auch alternativlos.
So eine Jahrhundertaufgabe brauche eine stabile, langfristige Finanzierung, begründete denn auch Bernhard Herrmann beim Fachgespräch die Stiftungsidee erneut. Langfristig sei es günstiger, Startkapital in eine Stiftung einzuzahlen und durch kluge Investitionen wachsen zu lassen, als immer neues Kapital nachzuschieben, betonte der grüne Bundestagsabgeordnete aus Sachsen.
Welches Startkapital hätten Leag und Mibrag, um es in die Stiftung einzuzahlen? Da wären die Rückstellungen, die bei der Leag derzeit knapp eine Milliarde Euro betragen sollen.
Als wichtiger für eine Stiftung erachtet Bernhard Herrmann den Flächenbesitz der Tagebaubetreiber. Damit dieser in der Stiftung landet, brauche es den richtigen politischen Rahmen, meinte Herrmann beim Fachgespräch. Dafür sehe er noch viele Hürden.
Die größte Hürde sind hier sicher Leag und Mibrag selbst. Die Energieunternehmen wollen die Flächen vor allem für ihre Nach-Kohle-Pläne nutzen, allein die Leag bekanntlich für Tausende Megawatt Windkraft und Photovoltaik. Aber auch Kommunen haben Ansprüche als Alteigentümer.
Für Wirtschaftsstaatssekretär Kellner stellen die Bergbau-Flächen ebenfalls einen großen Wert dar. Davon müssten die Kommunen stärker profitieren, verlangt er. Nach seiner Lesart sollen in die künftige Braunkohle-Stiftung auch die Flächen des Bergbausanierers LMBV einfließen.
Würden all die Flächen dann gewinnbringend in der Energiegewinnung genutzt, könnte die Stiftungslösung "ins Fliegen kommen", meinte Kellner.
Nicht ohne "Deckel" bei der Haftung
Er ist – wie die gesamte grüne Runde – sich aber auch im Klaren über gravierende Unterschiede einer Ost-Lösung etwa zur RAG-Stiftung. Diese kümmert sich um die Altlasten des westdeutschen Steinkohlebergbaus.
Eine Kopie für den Osten würde hier an mehreren Umständen scheitern. So hat RWE als westdeutscher Braunkohleförderer – anders als beispielsweise die Leag – auch viele Kommunen als Anteilseigner. RWE haftet als Konzern gesamtschuldnerisch für die Folgekosten der Braunkohle und hat auch genügend Kapital, um dafür geradezustehen.
Davon kann im Osten keine Rede sein. Der dortige Hauptakteur, der Milliardär Daniel Křetínský, hat bei der Übernahme von Leag und Mibrag von Anfang an dafür gesorgt, dass seine Holding EPH nicht für die Braunkohle haftet.
Dass die beiden Ost-Kohleförderer zu hundert Prozent für die Bergbaufolgekosten aufkommen, ist auch für Kellner keine realistische Annahme. Eine Stiftungslösung "ohne Deckel", bei der das verantwortliche Unternehmen vollständig haftet, werde man nicht bekommen, betonte der Staatssekretär im Fachgespräch.
Andersherum gedacht: Ein "Deckel", also eine Begrenzung bei der Haftung für die Bergbaufolgekosten, könnte die Unternehmen motivieren, die Stiftung mit Kapital auszustatten, vor allem mit echten Vermögenswerten wie den Flächen.
Für Gero von Daniels sind Stiftungs-Überlegungen im Zusammenhang mit dem Osten übrigens nicht wirklich neu. Solche Gedanken hätten Bund und Länder vor gut zehn Jahren schon einmal gehabt, seien aber wieder davon abgekommen, bekannte der frühere CDU-Wirtschaftsexperte in der grünen Runde. Man haben eben angenommen, es seien nur noch wenige Restarbeiten zu erledigen und man müsse sich dann nur noch um ein paar Ewigkeitslasten kümmern.
Er jedenfalls halte es für sinnvoll, über eine Stiftungslösung nachzudenken, betonte von Daniels.
Bleibt zu hoffen, dass nun wirklich darüber nachgedacht wird. Denn schaut man sich den heutigen Strommix an, befinden wir uns schon mitten im Kohleausstieg zwei.