Blick auf eine Erdkabel-Baustelle
Baustelle für neue Nord-Süd-Leitung: Die Netzbetreiber drängen auf mehr Flexibilität im Strommarkt. (Foto: Frank Peterschröder/​Amprion)

Wer den kürzlichen Zwei-Tage-Blackout im Berliner Stadtteil Köpenick technisch betrachtete, konnte etwas übers deutsche Stromnetz lernen. Hauptproblem war, dass die Bauleute auch die Reserveleitung außer Gefecht setzten. Über so eine zweite Leitung verfügt das deutsche Verteilnetz standardmäßig. Normalerweise tritt sie nur in Aktion, wenn die erste Trasse ausfällt.

Normalerweise. Ab und zu fließt schon jetzt, besonders wenn die Windkraft auf vollen Touren läuft, Strom durch die Reserveleitung, wie Kerstin Rippel vom Netzbetreiber 50 Hertz am Montag in Berlin verriet.

Bei einem Mediengespräch der Erneuerbaren-Agentur AEE präsentierte Rippel eine Beinahe-Erfolgsgeschichte, wie 50 Hertz teure Abregelungen von Strom, fossilem wie erneuerbarem, besser in den Griff bekam: durch die Inbetriebnahme der Thüringer Strombrücke, die Begrenzung des Stromexports nach Österreich, eine bessere Netztrennung nach Tschechien und Polen, den Bau von Umspannwerken, die verbrauchernahe Erzeugung grünen Stroms – und eben auch, indem man vorhandene Trassen besser auslastet.

Ökostrom hatte 2018 im 50-Hertz-Gebiet – alle neuen Bundesländer plus Berlin und Hamburg – bereits einen Anteil von 56,5 Prozent an der verbrauchten Elektroenergie. Schon für 2021 erwarte man die 65 Prozent, verkündete Rippel. Da sei man eine Art Vorreiter.

Trotz des schon jetzt hohen Öko-Anteils habe es im 50-Hertz-Gebiet weniger Netzstörungen gegeben als im Bundesschnitt, betonte die Expertin. Das Argument, erneuerbare Energien machten das Netz unsicher, ziehe nicht. Auch sind laut Rippel die Strommengen und damit die Kosten des Engpassmanagements gesunken, letztere allein bei 50 Hertz von 350 Millionen Euro im Jahr 2015 auf knapp über 100 Milllionen Euro 2018.

Und das gelang, wie hinzuzufügen ist, obwohl sich im 50-Hertz-Gebiet mehrere große Braunkohlekraftwerke befinden, die ihre Erzeugung nur ungern herunterfahren. Netzvertreterin Rippel findet: Weil die Erneuerbaren "immer die günstigste Energie" darstellen, dürften diese "überhaupt niemals abgeregelt werden". Kohlestrom sei wesentlich teuer.

Vor dem Durchbruch zur nächsten Stufe der Energiewende?

Dennoch laufen in Deutschland, wie am Montag Björn Spiegel vom Erneuerbaren-Dienstleister Arge Netz beklagte, immer noch gut 20.000 Megawatt Kohle als sogenannte Must-Run-Kapazität zur Netzsicherheit durch. Ob die 20.000 wirklich nötig sind oder vielleicht auch 5.000 reichen, könne man derzeit nicht genau überprüfen – Spiegel sprach sich hier wie auch Rippel für mehr Transparenz im Strommarkt aus, indem zum Beispiel Erzeugung und Verbrauch in Echtzeit geregelt werden.

Ansonsten ist der Forderungskatalog, mit dem AEE und Netzvertreter gern durchstarten wollen, ebenso lang wie wohlbekannt. Und ebenfalls schon seit Jahren steht die Bundesregierung auf der Leitung und blockiert. Eine Auswahl:

  • Statt mit einer begrenzten "Experimentier-Klausel", die auch noch in zwei Jahren ausläuft, müsse nun endlich in großem Maßstab bislang nicht genutzter Ökostrom für andere Anwendungen (Heizen, "grünes Gas", Industrieprozesse) freigegeben werden.
  • Um Ökostrom in anderen Sektoren konkurrenzfähig zu machen, müssten endlich einige Kostenbestandteile wie die Stromsteuer wegfallen; auch brauche es eine wirksame CO2-Bepreisung, vor allem in den Bereichen, die nicht dem Emissionshandel unterliegen, wie Verkehr und Wärme.
  • Unternehmen, die auf ein Öko-Image bauen und und keinen Graustrom von der Börse beziehen wollen, müsse endlich die Möglichkeit eingeräumt werden, sich echten grünen Strom direkt vom Erzeuger liefern zu lassen.

Für den Arge-Experten Spiegel stellen die 65 Prozent Ökostrom-Anteil dann kein Problem dar. "Wir können noch viel, viel mehr", ist er überzeugt. Es ergebe auch keinen Sinn, Kohlekraftwerke ab- und Gaskraftwerke anzuschalten. Eine Qualitäts-Energieversorgung stellt sich für Spiegel beispielhaft am sogenannten Erneuerbaren Kraftwerk dar, bei dem die Arge Netz vom nordfriesischen Husum aus mehr als 2.600 Megawatt Windkraft, Photovoltaik, Biogas und flexible Verbraucher zusammenschaltet.

Spiegel geht übrigens felsenfest davon aus, dass die Notwendigkeit eines CO2-Preises inzwischen allen – von der Union bis zum Industrieverband BDI – klar ist. Selbst CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer verschließe sich dem Gedanken nicht mehr, meinte Spiegel optimistisch. Man sei jetzt schließlich in einer neuen Zeit.

Bleibt zu hoffen, dass da nicht vor allem der Wunsch der Vater des Gedankens war.

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