Saúl Luciano Lliuya ist zäh. Anders könnte der peruanische Kleinbauer nicht durchhalten. Nicht in seinem Zweitjob als Bergführer, bei dem er Touristen aus Nordamerika und Europa die atemberaubende Schönheit der Anden-Gipfel auf 3.500 bis 4.000 Metern Höhe zeigt. Und auch nicht in dem Klimaschutz-Prozess, den er gegen den deutschen Stromkonzern RWE führt.
Lliuya wohnt unter schmelzenden Gletschern in dem südamerikanischen Hochgebirge, und er will das Unternehmen aus Essen, das mit seinen Braunkohle-Kraftwerken einer der größten CO2-Produzenten Europas ist, zur Verantwortung ziehen.
Als Klimaaktivist sieht er sich dabei gar nicht. Er ruft nicht zu Protesten auf. Aber er sagt: Menschen wie er seien eben besorgt, weil die Gletscherschmelze ihr Leben zu zerstören drohe. "Wir identifizieren uns mit den Bergen." Aus der Heimat wegzuziehen, kommt für ihn nicht infrage.
Lliuya ist vorige Woche nach Deutschland gekommen, weil sein Prozess in die entscheidende Phase geht. Der läuft nun schon seit zehn Jahren. Zuerst hatte das zuständige Landgericht Essen die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht allerdings, das OLG Hamm, ordnete 2017 eine Beweisaufnahme an. Denn: Die Klage sei schlüssig begründet.
Am Montag startete, nach Corona-Verzögerungen, eine zweitägige Verhandlung vor dem Gericht, um zu klären, wie groß die Gefahr für den Peruaner tatsächlich ist. Es geht darum, ob das Haus seiner Familie in absehbarer Zeit – konkret in den nächsten 30 Jahren – von einer Flutwelle weggerissen werden könnte.
Ist das Risiko relevant, müsste in einem zweiten Schritt festgestellt werden: Inwieweit haben der Klimawandel und der CO2-Ausstoß von RWE dazu beigetragen?
"Luciano Lliuya gegen RWE" ist ein international beachteter Prozess. Er könnte Rechtsgeschichte schreiben. Es geht darum, ob große CO2-Einheizer aus der Industrie für die globalen Folgen ihrer Emissionen haftbar gemacht werden können. Zwischen Deutschland, wo das CO2 aus RWE‑Kohlekraftwerken quillt, und Peru liegen rund 10.000 Kilometer Luftlinie.
"Wir haben jeden Tag Angst"
Der Peruaner wohnt in der Andenstadt Huaraz, die auf 3.000 Metern Höhe liegt – direkt unterhalb eines Gletschersees, der Palcacocha-Lagune. Er baut dort auf kleinen Feldern Mais, Kartoffeln, Weizen und Okra an. Doch für einen großen Teil der 120.000-Einwohner-Stadt, in dem auch sein Haus steht, wird eine Flutkatastrophe befürchtet – wegen der vom Klimawandel getrieben Gletscherschmelze.
Der See ist in den letzten Jahrzehnten um ein Vielfaches angewachsen. "Wir haben jeden Tag Angst, dass es passieren könnte", sagte Lliuya zum Beginn seiner juristischen Auseinandersetzung mit RWE vor zehn Jahren. Er sehe "jeden Tag, wie die Seen im Gebirge wachsen". Die Menschen von Huaraz könnten nicht einfach warten, was passiert.
Für ihn sei klar, dass diejenigen Verantwortung übernehmen müssen, die den Klimawandel verursacht haben – "die Unternehmen weltweit, die mit ihrem CO2-Ausstoß das Klima verändern". Der Peruaner forderte, RWE solle sich an der Finanzierung von Schutzmaßnahmen für den See beteiligen, die Verstärkung der Dämme zum Beispiel – und zwar in einer Größenordnung, die dem Anteil des Konzerns an der Verursachung des Klimawandels entspricht.
Fachleute des peruanischen Gletscherinstituts hatten den Gletschersee damals untersucht. Sie sahen die Gefahr, dass eine 30 bis 50 Meter hohe Flutwelle von Berg herunterstürzen könnte, falls die Dämme des Sees brechen. Es wurde zwar ein provisorisches Abpumpsystem installiert.
Doch das reiche nicht, um eine gefährliche Flutwelle zu vermeiden, befürchten Lliuya und seine Mitstreiter von der deutschen Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch, mit der der Peruaner während des Klimagipfels 2014 in Perus Hauptstadt Lima in Kontakt gekommen war. In dem Gletscher bilden sich wegen der steigenden Temperaturen Löcher, die mit Wasser volllaufen – und, so die Sorge, dann plötzlich ausbrechen können.
RWE fürchtet Präzedenzfall
Der Streitwert, um den es in dem Prozess geht, ist gering – nur rund 17.000 Euro. Das war nach Angaben der Klägerseite von 2015 der Anteil der Kosten, die auf RWE zukämen, um einen Damm vor Huaraz zum Schutz gegen die befürchteten Fluten zu bauen. Ein geradezu lächerlicher Beitrag für einen Konzern mit rund 30 Milliarden Euro Umsatz im Jahr.
Damals gingen die Klage von 0,47 Prozent der Gesamtkosten aus. Das bezog sich auf die Daten des "Carbon Majors Report" von 2014 zu den weltweiten Großemittenten. Laut dem Report, der von einem britischen Thinktank jährlich vorgelegt wird, war der 1898 gegründete Essener Konzern im Jahr 2014 für 0,47 Prozent aller weltweiten CO2-Emissionen seit Beginn der Industrialisierung verantwortlich.

Inzwischen liegt der Anteil niedriger, weil andere globale Einheizer wie China stärker ins Gewicht fallen und RWE seinen CO2-Ausstoß reduziert hat, im aktuellen Majors-Bericht sind es 0,38 Prozent. Lliuya und seine Anwältin, die renommierte Hamburger Umweltjuristin Roda Verheyen, passten den Antrag entsprechend an.
RWE fürchtet ein negatives Urteil, obwohl es sich im konkreten Fall nur um die sprichwörtlichen "Peanuts" handelt. Schließlich wäre das ein Vorbild für unzählige weitere Klagen mit wohl auch viel höherem Streitwert. Zudem könnte das Verfahren im Fall eines Klage-Erfolgs eine Signalwirkung auf weitere Energie- oder auch Autokonzerne haben.
Das Essener Unternehmen argumentiert: Es sei nicht möglich, konkrete Auswirkungen einer Klimaveränderung vor Ort juristisch einem einzelnen Emittenten zuzurechnen. Es gehe Lliuya und Co darum, einen "Präzedenzfall zu schaffen". Folge das Gericht der Argumentation, könne künftig auch jeder Autofahrer für die Folgen des Klimawandels verantwortlich gemacht werden. RWE halte das "für rechtlich unzulässig und auch gesellschaftspolitisch für den falschen Weg".
Mit dieser Argumentation allerdings kam der Konzern beim Vorsitzenden Richter in Hamm, Rolf Meyer, nicht gut an. Er stellte in der Verhandlung klar: "Dieses Argument ist eindeutig falsch." Es gehe bei RWE um "erhebliche Mengen" CO2, nicht um die vergleichsweise geringen Emissionen, die beim privaten Autofahrer aus dem Pkw-Auspuff kommen.
Wahrscheinlichkeit für Entscheidung gegen Lliuya steigt
Indessen zeichnete sich in den zwei Verhandlungstagen ab, dass die geladenen Sachverständigen die Gefahr für Lliuyas Haus in den nächsten 30 Jahren für relativ gering halten. Die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Flut liege bei nur einem Prozent, sagte der Geowissenschaftler und Statiker Rolf Katzenbach, Professor an der TU Darmstadt. Er hatte die Region um die Palcacocha-Lagune 2022 zusammen mit Richter Meyer besucht.
Das Gestein am Gletschersee bestehe aus widerstandsfähigem Batholith, das stehe "wie eine Eins", sagte Katzenbach. Und komme es doch zu einer Flutwelle, werde diese auf dem Grundstück des Klägers maximal 20 Zentimeter hoch sein.
Richter Meyer dazu: "20 Zentimeter Wasser haben die meisten von uns schon mal im Keller gehabt". Eine konkrete Gefahr für das Grundstück Lliuyas in den Anden sehe er "aktuell noch nicht", sagte er am Mittwoch.
Die Klageseite hat ein eigenes Gutachten anfertigen lassen, und das kommt zu anderen Ergebnissen. Katzenbach und Co hätten den Temperaturanstieg infolge des Klimawandels nicht ausreichend in die Berechnungen einbezogen. Felsstürze, die durch tauenden Permafrost ausgelöst werden, seien die Hauptgefahr, nicht Eislawinen, auf die sich die Sachverständigen des Gerichts vor allem konzentriert hätten.
"Es gibt verschiedene Indikatoren, die mir zeigen: Dieser Berg ist in Bewegung", sagte der Gutachter der Kläger, der Permafrost-Experte Lukas Arenson von der kanadischen Geotechnik-Beratungsgesellschaft BGC. So würden Bergführer bereits häufig Steinschlag beobachten.
"Fossile Konzerne haben versteckte Risiken in ihren Büchern"
Auch könne ein von den Gutachtern als lagestabil beurteilter Felsen oberhalb des Sees durchaus abbrechen. Als Beispiel zeigte Arenson ein Foto einer Felsspitze aus dem gleichen Material aus den USA, von der ein Teil weggebrochen sein soll. Auch große Felsstürze seien möglich.
Arenson hob die Auswirkungen der Erderwärmung auf den Permafrostboden hervor, den es oberhalb des Sees gibt. "Die Gebirgsfestigkeit nimmt durch die Permafrost-Erwärmung ab", betonte er. Am Mittwoch wurde die Debatte über die Gutachten vor Gericht intensiv geführt.
Eine Entscheidung hat das Gericht am Mittwoch für den 14. April angekündigt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie gegen Saúl Luciano Lliuya fällt, ist nach den zwei Tagen in Hamm nicht gering.
Die Umweltseite legte sich denn auch eine Argumentation für diesen Fall zurecht. Sie betonte, das Verfahren gegen RWE habe schon jetzt Rechtsgeschichte geschrieben. Bereits die Tatsache, dass das OLG einen Anspruch des Peruaners gegen den Konzern grundsätzlich für möglich hält, sei ein Etappensieg.
Der Geschäftsführer von Germanwatch, Christoph Bals, sagte, der Fall habe offengelegt, "dass fossile Konzerne bisher nicht kenntlich gemachte Risiken in ihren Büchern haben".