Etwa hundert Menschen stehen an der Abbruchkante des Braunkohletagebaus Garzweiler zwei, der obere Teil eines Baggers ragt aus dem Tagebau hervor.
Trotz starker Polizeipräsenz gelang es am Samstag vielen Protestierenden, bis zur Tagebaukante von Garzweiler II zu kommen. (Foto: Jörg Farys)

Einem der großen Kohlebagger sind viele noch nie so nah gewesen. Immer mehr Menschen drängen am Samstagnachmittag an die Abbruchkante des Tagebaus Garzweiler II. Von hier kann man schon die letzten Dächer von Lützerath sehen.

Am späten Abend sind schwer verletzte Klimaaktivisti:nnen zu beklagen, in einem Fall sogar lebensgefährlich verletzt, wie das Bündnis "Lützerath Lebt" mitteilt. Bei Polizeieinsätzen habe es gezielte Schläge auf den Hals mit Fäusten und Schlagstöcken gegeben sowie den Einsatz von Pfefferspray, Räumpanzern, Wasserwerfern sowie Hunde- und Pferdestaffeln.

Zum Frühstück ist im Camp Lützerath noch alles ruhig. Langsam tröpfeln immer mehr Menschen aus ganz Deutschland ein. Flo zum Beispiel hat einen Nachtbus aus Berlin genommen. "Als wir hier im Camp ankamen, war es noch stockdunkel", sagt er. Der 32-Jährige kam allein. "Ich will mich einfach mit aller Kraft gegen den Klimawandel einsetzen."

Um Flo herum essen Menschen auf Bierbänken, dazwischen steht ein blau-weißes Zirkuszelt. Es gibt Porridge und Brote. Der Boden ist schlammig, die meisten tragen Regenhosen. Je dreckiger die Regenhose ist, desto länger sind die Menschen schon im Camp. "Ikea", ruft jemand suchend durch die Menge. Viele hier wollen ihre Identität schützen und benutzen deswegen nicht ihre richtigen Namen.

Neue Motivation durch Großdemo

Das tut auch Lotte in ihrer pinken Regenjacke nicht. Die 23-Jährige wohnt schon seit ein paar Tagen im Camp. "Ich bin eigentlich nur für den Dorfspaziergang durch Lützerath am letzten Sonntag angereist und dann direkt geblieben", erzählt sie.

Zusammen mit anderen Aktivist:innen besetzte sie eines der Häuser im Dorf. Am Mittwoch dann wurde sie von einem Alarm geweckt. Ganz Lützerath war umzingelt von Polizei. Erstmal sei alles friedlich verlaufen. Die Aktivist:innen hätten die Eingänge blockiert. Plötzlich sei ein Molotowcocktail über sie hinweggeflogen. Das sei nicht ihre Form von Protest, betont Lotte.

Ab diesem Zeitpunkt sei es aber mit der ruhigen Aktion vorbei gewesen. Die Polizei habe sich eine Schneise durch die Menge geprügelt und die Sicherheit der protestierenden Menschen gefährdet.

Am Mittwochvormittag hatte Lotte das Dorf verlassen, freiwillig. Die Moral sei "so richtig am Boden gewesen", sagt sie. Dass nun heute, am Samstag, so viele neue Leute für die Demo in das nahe gelegene Camp kämen, sei für sie ein richtiger Motivationsschub.

Gegen 12 Uhr setzt sich die bunte Menge in Bewegung. Die Schlange der Demonstrierenden nimmt kein Ende. 35.000 Menschen zählen die Veranstalter. Die Polizei geht von weniger aus, spricht erst von 10.000, dann von 15.000. Vom nahen Ort Keyenberg ziehen die Menschen über eine Straße zur Kundgebungsbühne und damit auch in Richtung Tagebau und Lützerath.

Deal mit RWE spart fast kein CO2 ein

Gerade ist die Sitze des Demonstrationszuges an der Bühne angekommen, da verlassen erst einzelne und dann immer mehr Menschen den Zug und laufen in Richtung Tagebau. Schon bald stehen Hunderte an der Abbruchkante – mit direktem Blick auf den Schaufelbagger im Tagebau Garzweiler.

Nach Aussagen des Pressesprechers der Polizei Aachen, Andreas Müller, dringen einige Aktivist:innen auch in den Tagebau ein. Der Großteil der Menge aber möchte weiter – nach Lützerath.

In den letzten Wochen ist Lützerath zum wichtigen Schauplatz der Klimabewegung geworden. In einem Abkommen mit dem Energiekonzern RWE haben die Bundesregierung und die nordrhein-westfälische Landesregierung dem Abbaggern des Dorfes zugestimmt. Im Ausgleich dafür zieht RWE den Kohleausstieg um acht Jahre auf 2030 vor.

Dass die Kohle unter Lützerath abgebaggert werden muss, begründet die Bundesregierung gerade auch mit der aktuellen Energiekrise. Die Klimabewegung hält diese Argumentation für vorgeschoben und beruft sich auf wissenschaftliche Studien, denen zufolge die Kohle unter Lützerath nicht benötigt wird.

In einer Pressekonferenz kritisiert Olaf Bandt, Chef der Umweltorganisation BUND: "Das Vorziehen des Kohleausstiegs klingt gut, aber der Kohleausstiegspfad hält nicht, was er verspricht: Der Beschluss spart fast kein CO2 ein und lässt nahezu alle Kraftwerke bis 2030 durchlaufen." Neben dem BUND hatten Fridays for Future, Greenpeace, das Bündnis "Alle Dörfer Bleiben" und die Kampagnenplattform Campact zu der Großdemonstration aufgerufen.

Während der Demo fegt der Wind über die Felder vor Lützerath. Die Fahnen der Klimaschützer:innen flattern im Wind. Es regnet und der Boden hat sich in eine Schlammlandschaft verwandelt. Das Hin und Her zwischen Polizei und Aktivist:innen wird immer heftiger und chaotischer.

Polizei kündigt körperliche Gewalt und Wasserwerfer an

Noch immer kommen Demoteilnehmer:innen von Keyenberg aus in der Umgebung von Lützerath an. Polizeiketten werden durchbrochen. Die Polizei kündigt mehrfach über Lautsprecher an, dass "körperliche Gewalt und Wasserwerfer" eingesetzt würden, falls die Menschen das Gelände nicht verlassen sollten.

Es kommt zu Auseinandersetzungen, die Polizei setzt Schlagstöcke ein. Verletzte Aktivist:innen werden von Sanitäter:innen versorgt. Doch die Menge drängt immer noch weiter nach vorne.

Am Abend bleibt die Lage unübersichtlich, vor Mitternacht tritt dann eine Beruhigung ein. Es ist nicht klar, wie viele Verletzte es im Laufe des Tages gegeben hat. Eine Pressesprecherin des Bündnisses "Lützerath Lebt" spricht jedoch von massiver Polizeigewalt, die gegen die Protestierenden angewendet wurde.

Irgendwann macht sich ein Teil der Demonstrierenden auf den Heimweg. Unter ihnen ist auch der 58-jährige Volker. Er ist Softwareentwickler und aus Stuttgart angereist. Die riesige Menschenmenge, die heute hier war, hat ihn beeindruckt. "Letztendlich ist es egal, ob sie nach Lützerath durchkommen oder nicht", sagt er über die Aktivist:innen. "Heute wurde trotzdem die große gesellschaftliche Unterstützung sichtbar, die der Protest in Lützerath hat."

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