"Von jedem Kirschbaum aus schauen wir privilegiert auf andere Menschen hinab. So hören wir ihre Stimme nicht", beginnt Kai Börner seinen Monolog. "Wir wollen lebendige Seelen besitzen. Ihre Bodenschätze, ihr Land, ihre Früchte. Lebendige Seelen besitzen zu wollen, hat uns verdorben."
Der Schauspieler vom Staatstheater Cottbus spricht einen Auszug aus dem Stück "Tesla, die Spree und der Kirschgarten" von Fritz Karter. Börner spielt darin den ehemaligen Fallschirmjäger und nun Rentner Firs.
Das Stück erzählt, angelehnt an Anton Tschechows "Kirschgarten", vom anhaltenden Konflikt: vom Ringen um Besitz, Natur und ihren Erhalt. Das Cottbuser Staatstheater wirft in dieser Inszenierung zusätzlich einen Blick auf die Tesla-Gigafactory bei Berlin.
Mit jeder Bewegung knacken unter Kai Börner trockene Äste und Blätter. Er steht auf einer ganz besonderen Bühne – mitten im Wald, zwischen hochgewachsenen Kiefern.
Knapp vierzig Menschen haben sich hier in einem kleinen Kiefernforst inmitten des Lausitzer Braunkohlereviers versammelt, um an dem wolkenfreien, heißen Apriltag der Aufführung zuzusehen.
Sie sitzen auf Bierbänken unter freiem Himmel in dem letzten kleinen Waldstück, das für den heranrückenden Tagebau Nochten noch nicht gerodet wurde.
Die Bäume stehen schon gelichtet, der halbe Hektar Forst steht wie eine Insel im Vorfeld des zweitgrößten Braunkohletagebaus der Lausitz Energie AG, kurz Leag.
Hier im Nordosten Sachsens zeigt sich genau das, was Börner im Monolog anprangert: der Besitzanspruch über die Natur und ihre Bodenschätze.
Ein halber Hektar und ein Stück Zukunft
Die Leag mit Sitz in Cottbus ist einer der größten Energieerzeuger Deutschlands und nach RWE der zweitgrößte Betreiber von Braunkohletagebauen und ‑kraftwerken. 2016 wurde das Unternehmen gegründet, als der schwedische Staatskonzern Vattenfall seine Braunkohlesparte und damit auch den Tagebau Nochten an einen tschechischen Investor verkaufte.
Rechts vom Wäldchen blasen in weiter Ferne zwei hohe Kamine weiße Schwaden in die Luft – es ist das Leag-Kraftwerk Boxberg, das vom Tagebau beliefert wird.
Auf dem Ödland rund um den Restwald zeigen Reste von Baumstümpfen und Ästen, dass hier einst ein viel größerer Wald stand. Das Tagebauvorfeld wurde in den vergangenen zwei Jahren gerodet, berichtet Rebekka Schwarzbach von der Umweltgruppe Cottbus.
Nur das Wäldchen hält sich bislang wacker. "Da hinten steht der Bagger, der ihn am ersten Januar 2026 plattmachen möchte", bringt René Schuster es auf den Punkt. Auch er ist Mitglied der Umweltgruppe Cottbus sowie Bundesvorsitzender der Grünen Liga, zu der die Gruppe gehört.
Die 5.000 Quadratmeter Wald sind im privaten Besitz, seit 2019 ist die Umweltgruppe Pächterin. Schon vor vier Jahren beantragte die Leag eine sogenannte Grundabtretung des Waldstücks. Ende Oktober vergangenen Jahres genehmigte das Sächsische Oberbergamt dann die Enteignung.
Die Antwort darauf war eine Klage der Eigentümer Anfang Dezember 2024. Entschieden haben die Gerichte darüber bisher nicht, spätestens im Januar 2026 soll es Klarheit geben. "So lange sind wir auf jeden Fall hier", sagt Schuster bestimmt.
Vorerst kann der Wald von den Umweltschützern bespielt werden. "Deswegen können wir hier Kulturveranstaltungen, Bildungsveranstaltungen machen", freut sich René Schuster. Bei einem positiven Gerichtsurteil bliebe die Umweltgruppe sogar bis 2037 Pächterin.
Kohlebagger nagen am Pariser Klimaabkommen
Der Tagebau Nochten soll de facto bis zum möglichen Kohleausstieg-Enddatum 2038 betrieben werden. Und auch für den Nachbartagebau Reichwalde ist ein Betrieb für weitere 13 Jahre vorgesehen.
"Nochten ist im Grunde der Tagebau, an dem sich entscheiden wird, ob bis 2038 weitergebaggert wird oder der Kohleausstieg in der Lausitz früher kommt", erklärt Schuster. "Das, was die Leag hier vorhat noch abzubaggern, ist mit dem Pariser Klimaschutzabkommen überhaupt nicht vereinbar", so der Umweltschützer.
Zu diesem Ergebnis kam vor einem Jahr eine Studie der Fossil-Exit-Forschungsgruppe der Universität Flensburg im Auftrag der Klimaschutzorganisationen Fridays for Future und Beyond Fossil Fuels. Demnach dürfen ab 2022 nur noch rund 205 Millionen Tonnen Braunkohle aus der Lausitz verbrannt werden, um das 1,5-Grad-Limit von Paris einzuhalten.
"Was die Leag jedoch abbaggern will, sind in demselben Zeitraum mehr als 700 Millionen Tonnen." Um mit dem Paris-Abkommen vereinbar zu sein, müsste die Abbaufläche nach den Ergebnissen des Gutachtens deutlich reduziert werden.
Weil das genaue Gegenteil bevorsteht, kam am letzten Aprilsonntag auch Gunnar Golkowski, ebenfalls aus dem Cottbuser Theaterensemble, in den Nochtener Wald. Zusammen stellten Golkowski und Börner auch Szenen aus den Stücken "Kraftwerk" und "Aufstand" dar.
"Das Kraftwerk – Ein Theaterabend über Kohle, Wasser und die Ewigkeit" behandelt den Strukturwandel in der Lausitz und findet so auch im Tagebau Nochten seinen thematischen Kern wieder. Denn auch hier prägen die Leag, der Braunkohleabbau und die daraus resultierende Wasserknappheit die Region. Das Stück entstand in Kooperation mit dem Recherchebüro Correctiv.
Mehr Tagebaufläche heißt mehr Wasserverlust
Der Boden des kleinen Waldstücks ist trockener als anderswo. Für das letzte Stück Ökosystem weit und breit wird es in Zukunft nicht einfacher.
"Die wollen wahrscheinlich laut Plan dieses Jahr im Sommer bis zu 50 Meter an unseren Wald heranbaggern", wirft Rebekka Schwarzbach einen Blick voraus. Schon jetzt sterben die Bäume am Rand des Waldes ab, weil das Grundwasser immer weiter abgepumpt wird und, wie auch an diesem Apriltag, der Niederschlag häufiger ausbleibt.
"Wenn wir es schaffen, den Wald zu retten, dann bleiben 24 Millionen Tonnen Kohle in der Erde", erläutert Schwarzbach. Außerdem werde der Abstand zu den Dörfern größer, weil der Tagebau nicht näher an die angrenzenden Ortschaften Mulkwitz und Rohne heranrücken dürfe.
Die Folge wäre, dass weniger Grundwasser abgepumpt würde, das Tagebaurestloch kleiner bliebe und somit auch der für die spätere Landschaft geplante künstliche See. "Das heißt, auch da wird Wasser gespart."
Wasser ist eine Ressource, die in der Lausitz zunehmend zur Mangelware wird. Das liegt vor allem am Kohleabbau, der in den letzten Jahrzehnten ein großes Grundwasserdefizit mit sich brachte.
Trotz schwerer Bedingungen lockt das Wäldchen auch andere Besucher:innen an. Ein Segelfalter flattert zwischen den Kiefern umher, während die kleinen Theatereinlagen ihren Lauf nehmen.
Tatsächlich tauchen viele Tierarten in dem Waldstück auf und nutzen die Insel als Rastplatz in der großen Tagebaufläche, erzählt Rebekka Schwarzbach. "Hier gibt es Turmfalken und Mäusebussarde, Segelfalter, Schwalbenschwänze, und auch Rehe kommen vorbei."
Bis zur gerichtlichen Entscheidung bleibt unklar, ob dieser Pausenraum für Tiere dem Interesse der Braunkohleindustrie weichen muss.
Passend dazu zeichnet Schauspieler Börner am Ende seines Monologs ein realistisches Bild einer möglichen Zukunft für die Menschheit. "Wir zerstören uns selbst, und diese Entwicklung scheint kaum noch aufzuhalten."