Atomkraftwerk Biblis bei Nacht.
Atomkraft wird als Klimaschützer angepriesen – oft genug wiederholt, wird schon etwas hängen bleiben. (Foto: Thomas Pflaum/​Bundesregierung)

Im November 2010 wurden elf Castorbehälter mit insgesamt 123 Tonnen hoch radioaktivem Material aus der nordfranzösischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague in das niedersächsische Zwischenlager in Gorleben verbracht.

Auf der gesamten Transportstrecke, aber vor allem im Wendland gab es massiven zivilen Ungehorsam. Tausende Menschen setzten sich auf die Transportstrecke, ketteten sich an Schienen und Hindernisse, entfernten Schotter aus Gleisen.

Ihretwegen brauchten die Castoren so lange wie noch nie zuvor, seit die Transporte 1995 begonnen hatten. Der Protest war Ausdruck des Widerstands in der Bevölkerung gegen die von der schwarz-gelben Regierung zwei Monate zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke.

Im Frühjahr 2011 folgte die Reaktorkatastrophe von Fukushima, und als eine Viertelmillion Menschen gegen Atomkraft auf die Straße gingen, sah sich die Regierung Merkel gezwungen, den Ausstieg vom Ausstieg aus dem Ausstieg zu beschließen.

Im November 2011 gab es dann noch ein letztes Mal einen alle Rekorde brechenden Protest gegen einen Castortransport ins Wendland. Und seit wenigen Wochen ist klar: Es wird kein "Endlager" in Gorleben geben.

Ende 2022 sollen die letzten Atomkraftwerke vom Netz gehen. Doch dann ist Angela Merkel (CDU) nicht mehr an der Regierung – so wie Gerhard Schröder (SPD), dessen Regierung den ersten Atomkonsens im Jahr 2000 ausgehandelt hatte, 2010 nicht mehr an der Regierung war. Die Befürworter der Atomkraft in CDU und CSU stehen derweil schon in den Startlöchern, um Merkels Erbe abzuwickeln.

"Klimafreundliche Kernenergie"

Die politische Diskussion ist heute eine völlig andere als 2010. Die Klimakrise hat es endlich in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung und der Politik geschafft. Fast alle sind sich einig, dass etwas für das Klima getan werden muss – aber was genau und wie schnell, darüber wird weiterhin gestritten.

Nachdem konservative und rechte Politiker:innen den menschengemachten Klimawandel lange ignoriert, abgestritten oder kleingeredet haben, wird ihnen klar, dass sich nun zu diesem Menschheitsproblem irgendwie verhalten müssen. Eine ihrer Antworten: "klimafreundliche Kernenergie". Wie Zombies, die keine Ruhe finden, versuchen sie der totgesagten Atomkraft einen Weg zurück in den Diskurs zu beißen.

Dabei ist das zentrale Anliegen der Klimabewegung wie auch der Anti-Atom-Bewegung, auch in Zukunft ein Leben auf diesem Planeten zu ermöglichen. Der Temperaturanstieg muss dazu auf 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter begrenzt werden. Viele der älteren Klimaaktivist:innen waren bei den letzten Castorprotesten dabei und wissen, dass die Atomenergie keine Lösung für die Klimakrise ist.

Porträtaufnahme von Johanna Frei.
Foto: privat

Johanna Frei

Die Aktivistin hat vor zehn Jahren bei der Aktion "Castor Schottern" den letzten Castor­transport nach Gorleben blockiert. Danach ist sie im Rheinischen Braun­kohle­revier in der Klima­gerechtigkeits­bewegung aktiv geworden und versucht nun Klima- und Anti-Atom-Bewegung zusammen­zu­denken.

Der Abbau des Rohmaterials Uran findet häufig im globalen Süden und auf indigenem Land unter genauso tödlichen Umständen statt wie der Abbau von "Blutkohle" in Kolumbien oder Russland. Die Gefahr von Reaktorunfällen ist heute genauso real wie 1986 in Tschernobyl oder 2011 in Fukushima.

Und in der Frage der Atommüll-Lagerung ist die Bundesrepublik heute sogar weiter von einer Lösung entfernt, als es 2010 den Anschein hatte. 2013 musste beschlossen werden, dass der Atommüll aus der Schachtanlage Asse geräumt werden muss, weil unkontrolliert Wasser eindringt. Verantwortlicher Umgang mit dem atomaren Erbe sieht anders aus.

Kurz, wenn Landschaften und Grundwasser erst einmal verstrahlt und unbewohnbar sind, hilft auch die Einhaltung des 1,5-Grad-Zieles nichts.

Selbstgemachte Zwickmühle

Doch die Atomlobby aus Wirtschaftsvertreterinnen, Politikern, Atomphysikerinnen und -ingenieuren lässt nicht locker. Gerade der für die Einhaltung der Pariser Klimaziele notwendige Kohleausstieg wird von ihr gern gegen den Atomausstieg in Stellung gebracht.

In die Hände spielt ihr dabei, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien und der benötigten Infrastruktur in den letzten zehn Jahren von der Politik nicht gefördert, sondern eher noch behindert wurde – eine selbstgemachte Zwickmühle.

Ein anderer Kniff der Atomlobby ist es, auf mögliche tolle Entwicklungen in der Zukunft zu verweisen, die halt nur noch ein paar Milliarden Euro Forschungsgelder und ein paar Jahrzehnte für die Entwicklung und Einführung brauchen, aber dann alle Probleme jetziger Reaktoren lösen werden.

Genauso wie bei der Werbung der Kohlelobby für Kohlekraftwerke mit CO2-Abscheidung geht es hier um den Versuch, ein veraltetes System der Stromerzeugung und des Wirtschaftens weiter künstlich am Leben zu erhalten.

Dieses System des ständigen und unbegrenzten Wachstums auf Kosten von marginalisierten Menschen, meist im globalen Süden, und von Naturressourcen hat die Menschheit an den Rand des Abgrunds getrieben. Die Temperaturen steigen, Gewässer, Luft und Böden sind verseucht.

Es bleibt heute keine Zeit mehr, auf die Versprechungen einer Wirtschaft zu warten, die uns in diese Zerstörungen erst gebracht hat. Jetzt ist die Zeit für einen radikalen Gegenentwurf. Im Bereich Energie schließt dies eine dezentrale, erneuerbare, demokratisch organisierte Strom- und Wärmeerzeugung ein.

Nächster Castortransport steht unmittelbar bevor

Anfang November, also in wenigen Tagen, soll wieder hoch radioaktiver Atommüll durch Deutschland rollen. In dem ersten von fünf geplanten Transporten sollen sechs Castoren aus dem Ausland zurück nach Deutschland geholt werden.

Diesmal kommen die Atommüllbehälter aus der Plutoniumfabrik im britischen Sellafield mit dem Schiff in Nordenham bei Bremerhaven an. Seit Dienstag ist die gefährliche Fracht auf der Nordsee unterwegs, mit der Ankunft wird jederzeit gerechnet. Die Castoren sollen dann per Zug ins ehemalige Atomkraftwerk Biblis in Südhessen zum jahrzehntelangen "Zwischenlager" gebracht werden.

Dass Biblis aufgrund von fehlenden Reparaturmöglichkeiten nicht als Standort für die Lagerung geeignet ist, dass die Verschiebung von Atommüll von einem "Zwischenlager" in das nächste die Bevölkerung einem unnötigen Risiko aussetzt und dass der Einsatz von Tausenden Polizisten in Zeiten einer Pandemie ein unverantwortliches Infektionsrisiko birgt, ist dabei kein Hinderungsgrund für das Umwelt- und das Innenministerium, die den Transport verantworten.

Für die Klima- und Anti-Atom-Bewegung bietet der Castortransport eine Möglichkeit, schon heute deutlich zu machen, dass jeder Versuch einer Laufzeitverlängerung oder gar eines Neubaus von Atomreaktoren auf breiten Widerstand treffen wird.

Nachdem sich im vergangenen Jahr aus Anti-Atom- und Klimagruppen das Bündnis "Castor Stoppen" gegründet hat, wird der Protest in seinem Umfang diesmal wahrscheinlich noch nicht an die Aktionen gegen die letzten Castortransporte 2010 und 2011 ins Wendland heranreichen.

Das Bündnis wird aber dafür sorgen, dass die Probleme der Atomenergie wieder – oder sogar zum ersten Mal – in das Bewusstsein der Bevölkerung und vor allem der jungen Generation von Klimaaktivist:innen gerückt wird.

Vielen ist nämlich gar nicht bewusst, dass Deutschland immer noch Strom in Atomkraftwerken produziert. Und dass in der Brennelementefabrik in Lingen und der Urananreicherungsanlage in Gronau auch über 2022 hinaus Atombrennstoff für das Ausland hergestellt werden soll, ist den wenigsten klar.

Es geht jetzt darum, deutlich zu machen, dass die Atomkraft in Deutschland keine Zukunft hat – ganz bestimmt auch nicht als angeblicher Klimaretter getarnt.

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