Herr Kerstan, in dem länderübergreifenden Großprojekt "NEW 4.0" haben sich Hamburg und Schleswig-Holstein vorgenommen, sich bereits 2035 zu hundert Prozent mit erneuerbarem Strom zu versorgen. Welche Schwerpunkte haben Sie als Stadt gesetzt?
Jens Kerstan: Während Schleswig-Holstein die Standorte für die Windenergie hat und perspektivisch hohe Stromüberschüsse produzieren wird, hat Hamburg den hohen Strombedarf – durch stromintensive Industrien und voraussichtlich noch viele Jahre eine wachsende Bevölkerung. Außerdem werden wir mehr Strom brauchen für die Dekarbonisierung in anderen Sektoren, denken Sie etwa an Wärmepumpen oder an Elektrobusse.
Flexibilisierung, Sektorenkopplung und die digitale Infrastruktur, durch die beides möglich wird, stehen für uns im Zentrum. NEW 4.0 ist als Reallabor angelegt. Wir schreiben nicht nur Konzepte, sondern wollen zeigen, dass es geht und wie es geht. 100 Prozent Erneuerbare bis 2035 ist sehr ehrgeizig, aber technisch sind wir sicher, dass wir es schaffen können.
Welche rechtlichen Hürden gibt es dabei?
In der Energiewirtschaft kommen Geschäftsmodelle durch den gesetzgeberischen und regulatorischen Rahmen zustande – oder eben nicht. Die Bundesregierung hat uns mit der "Experimentierklausel" einen gewissen Spielraum gegeben. Es zeigt sich aber, dass da nachgesteuert werden muss, damit das Ganze auch wirtschaftlich funktioniert. Alle Projektpartner sind gemeinsam in einem kontinuierlichen Lernprozess, darum brauchen wir einen Rechtsrahmen, den man anpassen kann.
Sie haben sich entschlossen, das Kohlekraftwerk Wedel bis 2022 stillzulegen. Welche Alternativen haben Sie geplant?
Wir wollen in Hamburg mit der Wärmewende Ernst machen. Darum werden wir das Kohlekraftwerk nicht einfach durch eine andere fossile Anlage ersetzen, also etwa ein Erdgas-GuD-Kraftwerk, wie es noch in der letzten Legislatur geplant war. Stattdessen erschließen wir bisher ungenutzte Potenziale von industrieller Abwärme, erneuerbaren Energien und Wärme aus Abfall. Wir machen zum Beispiel Wärme nutzbar, die bei der Stahl- und Aluminiumproduktion anfällt oder wir nutzen mit einer Großwärmepumpe die Abwärme des Hamburger Klärwerks. Zusätzlich steigen wir mit einem Aquiferspeicher in die saisonale Speicherung ein.
Wir setzen also genau das um, was im Stromsektor schon länger passiert: Integration von erneuerbaren Energien durch Dezentralisierung, durch Diversifizierung der Quellen und perspektivisch auch durch Speicherung. In dem Maßstab, in dem wir das angehen, ist das neu für Deutschland.
Weil wir dabei im Wesentlichen auf Bestandsanlagen setzen, ist dieser Wandel aber auch wirtschaftlich vernünftig. Gleichzeitig reduzieren wir die Risiken für die Zukunft, indem wir uns von fossilen Brennstoffen unabhängiger machen.
Streit gibt es derzeit um den Anschluss des Kohlekraftwerkes Moorburg an das Fernwärmenetz. Sie kämpfen in dieser Frage gegen Vattenfall und sind für eine schnelle Dekarbonisierung der Fernwärme. Wie genau wollen Sie das schaffen?
Das Kraftwerk Moorburg ist erst 2015 ans Netz gegangen – die Einweihung war zwei Wochen vor dem Klimagipfel von Paris! 2050 will Deutschland treibhausgasneutral sein, das steht so im Klimaplan der Bundesregierung und das ist auch zwingend notwendig, wenn wir die Ziele von Paris erreichen wollen.
Das heißt, steigende CO2-Preise und der Kohleausstieg werden kommen, das wissen in der Branche alle. Wir wissen nur noch nicht genau, wann. Klar ist jedenfalls: In diesem Bild ist kein Platz für ein Kohlekraftwerk wie Moorburg.
Betriebswirtschaftlich kann ich verstehen, dass Vattenfall versucht, mit dem Verkauf von Wärme zusätzliche Deckungsbeiträge zu erwirtschaften und zusätzliche Laufzeiten für das Kraftwerk herauszuholen. Als verantwortlicher Hamburger Senator ist es aber nicht meine Aufgabe, das Investment eines Energiekonzerns bei den Hamburger Fernwärme-Kunden zu versichern. Meine Aufgabe ist es, eine zukunftsfähige Wärmeversorgung aufzubauen, die auch in 30 Jahren noch klimagerecht und preisstabil ist.
Nun gibt es sogar eine Volksinitiative für den Kohleausstieg bis 2025 – unterstützen Sie dieses Ziel?
Ich sehe die Volksinitiative als klare Unterstützung für die Linie, die der Hamburger Senat und meine Behörde verfolgen. Nachdem wir das Kraftwerk Wedel im Hamburger Westen ersetzt haben, wollen wir bis 2025 im Osten das Kraftwerk Tiefstack, also das andere Kohlekraftwerk in der Hamburger Fernwärme, auf Erdgas umstellen. Damit wird die Fernwärme kohlefrei sein. Für den vollständigen Verzicht auf fossile Brennstoffe einschließlich Erdgas können wir noch kein konkretes Enddatum nennen, aber wir werden den Anteil der Erneuerbaren stetig ausbauen.
In Hamburg gibt es einige spannende Testläufe, um den Verkehr nachhaltiger zu machen, beispielsweise die geplanten Wasserstoffbusse. Welche Ideen halten Sie für besonders vielversprechend?
Hamburg nimmt in vielen Fragen zur nachhaltigen Mobilität eine Vorreiterrolle ein. Die Wasserstofftechnologie bietet beim Antrieb von Bussen, aber auch von Pkw und Lkw, vielversprechende Antworten. Es wird aber nicht zuletzt auch auf die Elektromobilität ankommen. Ab 2020 werden wir in Hamburg nur noch emissionsfreie Busse anschaffen. Wir setzen für die Zukunft auf einen breiten Verkehrsmix. Neben der Verbesserung des ÖPNV und der Förderung des Radverkehrs wird es vor allem auf die intelligente Vernetzung unterschiedlicher Verkehrssysteme, wie beispielsweise Car- und Bikesharing-Dienste, ankommen.
Wir wollen innovative Verkehrslösungen und eine weitere intelligente Vernetzung des Verkehrs. Es laufen bereits zahlreiche, vielversprechende Projekte wie HEAT (Hamburg Electric Autonomous Transportation) für autonom fahrende emissionsfreie Shuttlebusse in Hamburg, die intelligente Parkplatzsuche, vernetzte Ampeln oder das U-Bahn-Ticket auf dem Smartphone.
Gerade wird über kostenlosen öffentlichen Nahverkehr debattiert: Wäre das auch für Hamburg eine Option, mehr Autos von den Straßen zu bekommen?
Wir begrüßen die Initiative der drei Bundesminister, ein Gratis-Angebot für Busse und Bahnen zu schaffen. Das wäre auf jeden Fall eine wirksame Maßnahme für die Umwelt. Wenn mehr Menschen das Auto stehen lassen und den ÖPNV nutzen, gibt es weniger Autoverkehr, weniger schädliche Abgase, weniger klimaschädlichen CO2-Ausstoß und weniger Lärm in der Stadt. Die EU-Grenzwerte für Stickstoffdioxid ließen sich so vermutlich schneller einhalten.
Mit den Kostenlos-Tickets ist es bei dieser Maßnahme aber nicht getan. Wenn die Nutzung stark zunimmt, müssten auch die Taktung und das Netz massiv ausgebaut werden. Klar ist: Das wäre ein sehr, sehr teurer Schritt, bei dem der Bund die Kosten tragen müsste. Wir sind jetzt gespannt, ob und mit welchen Vorschlägen zur Finanzierung der Bund auf Hamburg und die Länder zukommen wird.
Redaktioneller Hinweis: Das Interview wurde zuerst auf dem von der Agentur für Erneuerbare Energien (AEE) betreuten Portal "Föderal Erneuerbar" veröffentlicht.
Dieser Beitrag wurde nicht von der Redaktion erstellt. Er ist in Kooperation mit der Agentur für Erneuerbare Energien in einer Reihe mit 16 Länder-Interviews zur Energiewende in der Rubrik Advertorials erschienen.