Porträtaufnahme von Tim Meyer.
Tim Meyer. (Foto: Naturstrom)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Tim Meyer, Vorstand beim Öko-Energieversorger Naturstrom.

Klimareporter°: Herr Meyer, die Rekord-Hitzewelle in Teilen der USA und Kanadas wäre ohne den menschengemachten Klimawandel fast unmöglich gewesen. Dies ist das Kernergebnis einer neuen Studie der Forschungsinitiative World Weather Attribution. Die Erderwärmung habe die Hitzewelle mindestens 150-mal wahrscheinlicher gemacht. Erleben wir jetzt schon den Klimawandel, der uns erst für später vorausgesagt wurde?

Tim Meyer: Wir erleben erst die Vorboten dessen, was die Klimakrise bringen wird. Seit Jahren sind die Zeichen erkennbar und durch immer neue Studien belegt. Und bei jedem neuen, unübersehbaren Extremereignis wogt eine weitere Welle durch die Öffentlichkeit: Gefühlt immer mehr Menschen stellen dann sogar in einer Mischung aus Überraschung und Erschaudern einen Zusammenhang zur beginnenden Klimakatastrophe her.

Leider bleibt es aber oft dabei und die Erkenntnis tritt schnell wieder in den Hintergrund. Das menschliche Gehirn hält sehr beharrlich an lange gelernten Denkmustern und Gewohnheiten fest und entledigt sich unbequemer Wahrheiten dann mit Verdrängung, Verleugnung oder Abspaltung.

Auch fällt es den meisten Menschen offenbar schwer, den Bezug zu unserer eigenen Lebensweise und Fehlsteuerungen in unserem Wirtschaftssystem herzustellen. Oder diesen Zusammenhang innerlich auszuhalten und die notwendigen Schlüsse zu ziehen, persönliche Veränderungen in Gang zu bringen und im eigenen Umfeld wie auch gesamtgesellschaftlich voranzutreiben.

Ich bin jedenfalls zunehmend erstaunt, wie viel auch im eigenen Bekanntenkreis zwar über die Bilder aus Kanada gesprochen wird, wie wenig im Vergleich dazu aber über die konkrete Änderung eigener Entscheidungen, beispielsweise des eigenen Konsum- oder Urlaubsverhaltens oder wenigstens der Vorsätze dazu.

Einfache Stecker-Solaranlagen für den Balkon boomen. Die Mini-Anlagen sind auch für Mietwohnungen geeignet. Innerhalb einiger Jahre kommt inzwischen auch der Kaufpreis wieder herein. Graben Ihnen solche Selbstversorger das Ökostrom-Geschäft ab?

Schon lange freuen wir uns bei Naturstrom darüber, dass die Stromverbräuche unserer Kundinnen und Kunden Jahr für Jahr sinken. Und das ist keinesfalls schizophren. Es ist doch gerade eines der Kernprobleme unseres Wirtschaftssystems, die zerstörerische Kraft zu übersehen, die als Selbstzweck verstandenes Wachstum entfalten kann.

Also überzeugen wir lieber mehr Menschen, sich für unsere Produkte mit eingebauter Energiewende zu entscheiden, als ihnen mehr Konsum einzureden. Und wir rufen bewusst zum Handeln vor Ort auf und arbeiten beispielsweise viel mit Energiegemeinschaften zusammen: Denn die zwingend notwendige Dynamik, die wir für die Energiewende entfesseln müssen, kann und wird nur vor Ort entstehen.

Deshalb freue ich mich über Balkon-Solaranlagen besonders. Es ist doch ein klasse Signal, wenn Menschen auch in der Mietwohnung die Energiewende selbst und auf pragmatische Weise in die Hand nehmen, als Beispiel vorangehen und mit Familie und Freunden darüber reden. Dass Balkon-Solar für einige vielleicht noch als etwas subversiv gelten mag, finde ich da eher sympathisch.

Die Gasindustrie will künftig auch mit Wasserstoff heizen. Viele Fachleute lehnen das ab. An der Frage wird sich die Zukunft der Gasnetze entscheiden. Naturstrom füllt Biogas in die Gasnetze. Ist das die bessere Alternative – und wie weit reichte sie?

Wir setzen für unsere Gasangebote ausschließlich Biogas aus nachhaltigen Quellen ein, also aus Rest- und Abfallstoffen. Die verfügbaren Mengen in Deutschland sind aber klar begrenzt und werden auch aufgrund der höheren Beschaffungskosten nur von wenigen Anbietern wie Naturstrom genutzt.

Wir verstehen das heute als reine Brückenlösung. Hochwertiges Biogas wird eine Nische bleiben und stellt gerade für die Wärmewende in der Fläche keine Lösung dar. Hier setzen wir auf eine weitgehende Elektrifizierung der Wärmeversorgung, das heißt die Nutzung von Umweltwärme aus Luft, Erde und (Ab-)Wasser über Wärmepumpen.

Ich habe heute starke Zweifel, dass grüner Wasserstoff oder Synthesegase der richtige Weg für die Wärmeversorgung sein werden. Der Wirkungsgrad in der Umwandlungskette von erneuerbarem Strom über Wasserstoff oder Synthesegas zu Wärme oder Kraft-Wärme-Kopplung ist einfach zu schlecht.

Grüner Wasserstoff ist damit zu kostbar, um ihn einfach in der Fläche zu verheizen, und die Wärmepumpe die aus jetziger Sicht klar bessere und effizientere Alternative.

In keinem Fall dürfen wir auch nur einen Spaltbreit die Tür für "blauen" Wasserstoff öffnen, durch die die Gasindustrie jetzt naheliegenderweise gehen möchte. Das ist eine Ausweichstrategie zur Sicherung des alten Geschäftes und langfristiger Gasimporte.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Die Verdrängungsleistung, die weite Teile der Parteien- und Medienlandschaft im Rahmen des Bundestagswahlkampfs immer noch erbringen, finde ich gleichermaßen erschreckend und faszinierend.

Wir sprachen schon von der Rekordhitzewelle in Kanada und dem bereits begonnenen Klimawandel. Selbst die weitgehend klimapassive Bundesregierung hat noch wahlwerbewirksam und im Eilverfahren das Ziel der Klimaneutralität auf 2045 vorgezogen.

Wir haben also noch 24 Jahre. Nur 24 Jahre für die vollständige Dekarbonisierung unserer Energiesysteme. Nicht nur des Stromsektors, sondern auch der kompletten Wärmeversorgung, der Mobilität, der industriellen Prozesse et cetera.

Zum Vergleich: Das erste internationale Abkommen zum Klimaschutz, das Kyoto-Protokoll, liegt schon 25 Jahre hinter uns – und welchen Teil des Weges haben wir seitdem geschafft? Wir brauchen jetzt wirklich mutige, von einigen vermutlich als radikal empfundene Schritte.

Die können gelingen, aber nur wenn wir massive Veränderungen in unserem Wirtschaftssystem, in den Sozialsystemen, im Leben und Arbeiten der allermeisten Menschen in Deutschland in Angriff nehmen und gestalten. Und zwar genau jetzt.

Also müssten wir in unserer Gesellschaft intensiv über das Wie dieses Weges diskutieren und ringen, es erklären, Menschen mitnehmen, Ängste abbauen, Chancen aufzeigen und Härten abfedern.

Zurück zur Verdrängungsleistung: Ich habe es zwar nicht gemessen, aber gefühlt wurde mehr über kopierte Satzteile in einem politischen Sachbuch geschrieben und diskutiert als über diese notwendigen tiefgreifenden Umwälzungen zur Rettung unseres Lebensumfeldes, wie wir es kennen.

Fragen: Jörg Staude

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