Michael Müller
Michael Müller. (Foto: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, die Umwelt- und Energieminister der G7 sprachen in Berlin über die Unabhängigkeit von russischem Öl und Gas, weltweite Energiesicherheit für Industrie und Bürger und auch darüber, den Klimawandel zu bekämpfen. Wie sehen Sie die aktuelle Energie- und Klimapolitik der führenden Industrieländer?

Michael Müller: Gas aus Katar oder Fracking-LNG kann ich nicht als große Verbesserung ansehen. Die Maßnahmen zum Ersetzen von Pipelinegas sind eine sehr kurzsichtige Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine, hinter der kein längerfristiges Konzept steht.

Das Ende der fossilen Energieträger ist notwendig, aber heute zeigt sich, wie verhängnisvoll die jahrzehntelange Vernachlässigung der beiden anderen Seiten der Energiewende ist: zum einen der Effizienzrevolution, also der gezielten Steigerung der Energieproduktivität, die weit über den wirtschaftlichen Wachstumsraten liegen muss, und zum anderen der Suffizienz, also der Mäßigung und des Verzichts, wobei der Gerechtigkeitsaspekt besonders wichtig ist.

Der aktuelle Zustand der Klimaschutzpolitik ist dadurch geprägt, dass sie keine strukturierende und erst recht keine gestaltende Rolle in der sozialen und ökologischen Transformation einnimmt.

Beispielhaft ist dafür die Koalitionsvereinbarung der Ampel-Regierung in Deutschland. Sie ist machbarkeitsselig und setzt auf Wirtschaftswachstum und technische Innovationen, nicht aber auf Umbau und Strukturreformen.

Dabei müssen wir die Endlichkeit und Störanfälligkeit des Erdsystems für menschliches Leben akzeptieren. Wir verlieren Zeit.

Die Erderwärmung wird bisher vor allem im Rahmen der UN-Klimakonvention behandelt. Doch wenn die Länder beginnen, ihre Klimaziele umzusetzen, wird eine internationale Architektur der Zusammenarbeit gebraucht, eine Weltklimaordnung. Ein solches globales System kooperativer Strukturen, Regeln und Bündnisse fordert der Klimachef des Londoner Thinktanks E3G in einem Gastbeitrag. Was ist davon zu halten?

Ich sehe das nicht als einen Gegensatz. Natürlich brauchen wir eine globale Ordnung, die überwölbend Ziele und Strukturen festlegt.

Dafür sind vor allem die Vereinten Nationen zuständig, die dieser Rolle freilich bislang nicht gerecht werden. Nach 27 Jahren UN-Klimaverhandlungen zeigt sich, dass die Klimapolitik real weit hinter dem Notwendigen zurückbleibt. Der Widerspruch zwischen dem Notwendigen und dem angeblich nur Möglichen lähmt und blockiert den Fortschritt beim Klimaschutz.

Dadurch wird immer von Neuem, sogar mit der "Legitimation" der UN, ein Selbstbetrug praktiziert – die Täuschung, es würden doch wichtige Schritte getan.

Auch mit dem Pariser Klimavertrag wurde eine Schimäre aufgebaut, die weit weg ist von der Wirklichkeit und erst recht von den Notwendigkeiten der nationalen Klimaschutzpolitik.

Es fehlt nicht nur an einem globalen System kooperativer Strukturen, Regeln und Bündnisse, das eine hohe Verbindlichkeit hat. Vor allem brauchen wir ein Modell von nachhaltiger Entwicklung, das der Tragfähigkeit des Erdsystems gerecht wird und gleichzeitig global und sozial gerecht ist.

Diese doppelte Herausforderung wird bisher nur sehr wenig beachtet. Vielmehr dominieren die Forderungen nach Ausstieg und der Durchsetzung neuer Technologien, so auch bei der Bundesregierung. Die soziale und ökologische Gestaltung der Transformation kommen zu kurz.

Auch die Klimapolitik geht noch immer von der Dominanz von Markt und Wachstum aus. Sie muss aber ein politisch-kulturelles Projekt sein, das auch mit erheblicher Umverteilung verbunden ist.

Im Kern ist der Klimaschutz immer auch eine soziale Herausforderung. Andernfalls wächst die Gefahr, dass unser Jahrhundert zu einem Jahrhundert der Verteilungskämpfe wird.

Die wichtigste Aufgabe vor allem in den Industriestaaten ist, sozial gerechte Antworten auf die ökologischen Grenzen des Wachstums zu geben.

Die immanente Krise der Klimapolitik liegt darin, dass den globalen Herausforderungen keine ganzheitliche und machbare Vision des menschlichen Fortschritts entgegengestellt wird. Klimaschutz wird immer noch als Teilkorrektur oder Ergänzung verstanden, nicht aber als Grundlage eines neuen Modells gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung.

Ohne greifbare Fortschritte ging in Brüssel offenbar die jüngste Verhandlungsrunde um den Energiecharta-Vertrag zu Ende. Wie war es möglich, dass sich die fossile Industrie in den 1990er Jahren ein solch mächtiges Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen schaffen konnte?

Hier treffen die knallharten Interessen einer untergehenden Epoche, deren Vertreter ihre Profitziele nicht aufgeben wollen, auf die Anforderungen des Klimaschutzes.

Die Energiecharta schützt völlig unangebracht noch über Jahre Investitionen aus der fossilen Welt und versucht vor allem, überholte Investitionen zu retten. Mit Markt und Innovationen ist das nicht zu vereinbaren.

Die Charta ist ein Instrument der Sicherung von Investitionen, die nicht zu sichern sind. Sie ist ein Instrument zur Absicherung von Privilegien. Hier muss vor allem mehr Öffentlichkeit und Transparenz geschaffen werden.

Alle 100 statt alle 3.300 Jahre: So stark hat die Wahrscheinlichkeit zugenommen, dass es in Indien und Pakistan zu einer Hitzewelle wie momentan kommt. Erleben wir eine Dynamik des Klimawandels, die selbst Klimaforscher so nicht vorausgesagt haben?

Seit geraumer Zeit wissen wir, dass im Klimasystem regional unterschiedliche Reaktionen zu erwarten sind. Die ökologisch sensiblen Zonen sind stärker betroffen, dort werden bereits die Folgen häufiger, die dann global in der weiteren Zukunft eintreten werden.

Es ist eine der großen Herausforderungen des Klimawandels, dass seine Folgen zeitlich, räumlich und sozial höchst ungleich verteilt sind. Von daher wächst die Gefahr, dass der reiche Teil der Erde versuchen wird, sich in grünen Oasen des Wohlstands vom Rest der unwirtlich werdenden Welt abzuschotten. Das riecht nach Krieg.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Das aus dem Lot geratene Verhältnis von Menschenrechtspolitik und Realpolitik, das ich vor allem bei der Bundesaußenministerin höre. Es ist doch eine Naivität zu glauben, die globalen Umwelt- und Klimaprobleme könnten ohne Länder wie Russland oder auch China gelöst werden.

Die wichtigste Aufgabe im Krieg heißt Frieden schaffen. Auch und gerade mit dem größten und mit dem bevölkerungsreichsten Land der Erde.

Fragen: Jörg Staude

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