Frans Timmermans gestikuliert mit der Hand und schaut ansatzweise entrüstet drein.
EU-Vizekommissionspräsident Frans Timmermans ist Chefverhandler der Europäischen Union. (Foto: IISD/​ENB)

"Wir sind nicht nur auf Kurs mit unserem Klimaziel. Wir gehen davon aus, dass wir bis 2030 unsere Emissionen um mindestens 57 Prozent senken werden." Mit diesen Worten ist ein energischer Frans Timmermans auf der gut gefüllten Pressekonferenz der EU zu vernehmen.

Der Klimakommissar schiebt allerdings nach, dass es sich bei den 57 Prozent um kein offiziell beschlossenes Ziel handelt, das die bisher im "Green Deal" geltende CO2-Reduktion um 55 Prozent bis 2030 ersetzt. Das Minus von 57 Prozent übersetzt schlicht die in diesem Jahr von der EU beschlossenen Klimaverordnungen in Zahlen.

Seit Montag mischen Timmermans und einige EU-Umweltminister:innen auf der Weltklimakonferenz COP 27 in der ägyptischen Küstenstadt Sharm el-Sheikh mit. Mit der Ankündigung der 57 Prozent ist der EU-Auftritt auf der COP gerade noch gut gegangen, wird sich Timmermans gedacht haben.

Grund für die Steigerung um zwei Prozentpunkte ist, dass sich die EU-Institutionen letzte Woche im sogenannten Trilog noch auf einige wichtige Klima-Verordnungen einigen konnten.

Nicht viel hätte gefehlt und der EU-Kommissar wäre mit einer sehr undankbaren klimapolitischen Bilanz im Gepäck nach Ägypten gefahren: Europa fördert fossile Energien in Afrika, Kohlekraftwerke gehen wieder ans Netz und Klimaziele rücken in den Hintergrund.

Für Timmermans ist das durch die besondere Situation des Ukrainekriegs gerechtfertigt. "Ja, es wird wieder mehr Kohle verbrannt, und ja, wir suchen überall nach Erdgas. Aber doch nur für zwei bis drei Jahre", sagte er am Dienstag in Sharm el-Sheikh.

Einigung in letzter Minute

Dank der auf den letzten Drücker erzielten Einigung steht die EU-Delegation zumindest nicht mit leeren Händen auf dem Klimagipfel da. Letzten Mittwoch hatten sich Europaparlament, EU-Kommission und Mitgliedsstaaten auf ehrgeizigere Emissionsziele für 2030 in einigen Sektoren geeinigt.

So soll der Treibhausgasausstoß von Verkehr, Gebäuden, Landwirtschaft, kleinen Industrieanlagen und Abfall bis 2030 um 40 Prozent statt der bisherigen 30 Prozent sinken.

Außerdem schreibt diese neue Lastenteilungsverordnung den EU-Ländern vor, welchen Beitrag sie dafür leisten müssen. Dieser richtet sich vor allem nach der Wirtschaftskraft der einzelnen Länder. Da die betroffenen Sektoren wie Gebäude oder Verkehr zusammen 60 Prozent der Gesamtemissionen ausmachen, ist die Einigung ein großer Schritt nach vorn.

Die EU hat zudem neue Ziele für natürliche CO2-Senken beschlossen. Bis 2030 sollen durch Aufforstung und die Wiedervernässung von Mooren bis zu 310 Millionen Tonnen CO2 gebunden werden – 85 Millionen Tonnen mehr als bisher vorgesehen. Und mit dem milliardenschweren Investitionspaket "Repower EU" sollen der Anteil der erneuerbaren Energien am Strommix sowie die Energieeffizienz erhöht werden.

Um den Ausbau der Erneuerbaren zu beschleunigen, will die EU ihre Mitgliedsländer zu deutlich kürzeren Genehmigungsverfahren verpflichten. Die Entbürokratisierung sei dringend notwendig für Europas Energiewende, die bis dahin "eher im Schneckentempo" verlaufen sei, freute sich Michael Bloss, klimapolitischer Sprecher der Grünen im EU-Parlament.

Ankündigung kommt zu spät

Wenn die EU-Staaten all das tatsächlich so umsetzen, könnte die EU laut Berechnungen des Klimanetzwerks CAN Europe bis 2030 über 60 Prozent ihrer CO2-Emissionen einsparen. Ganz so weit wollte sich Timmermans am Dienstag nicht aus dem Fenster lehnen. Aber jedes Anzeichen, dass ein Land oder eine Wirtschaftsregion die eigenen Klimaziele übertrifft, ist Gold wert auf der COP.

Bloss fordert, dass Timmermans die jüngsten Verhandlungsergebnisse nutzt, um "zusammen mit unseren Partner:innen eine starke Allianz für mehr Klimaschutz zu schmieden". Mit anderen Worten, um auch andere Staaten zu einer Verschärfung ihrer Klimaziele anzuhalten.

Allerdings käme die Ankündigung wenige Tage vor Ende der Klimakonferenz zu spät, räumt der Grüne ein. Zum Anfang des Gipfels hätte damit möglicherweise eine internationale Dynamik ausgelöst werden können.

"Die EU macht Fortschritte, scheint aber auf dem Weg zur Klimaneutralität einige Umwege und Boxenstopps zu machen", sagt Manon Dufour, die das Brüsseler Büro des Klima-Thinktanks E3G leitet.

Und kompatibel mit dem 1,5-Grad-Ziel ist die EU auch mit 57 Prozent Emissionsreduktion nicht. Der Thinktank Climate Analytics kam zum Ergebnis, dass die EU dazu bis 2030 ihre Emissionen zwischen 63 und 73 Prozent senken und Klimaneutralität schon zwischen 2040 und 2045 erreichen müsste.

Knackpunkt finanzieller Ausgleich

An einer Stelle stecken die EU-Verhandlungen fest. Und das gerade bei dem Herzstück des "Fit for 55"-Pakets, dem CO2-Emissionshandel. Bis Mitte Dezember soll eine Einigung erreicht werden. Einer der Knackpunkte ist die Forderung des Parlaments, mindestens zehn Prozent der Einnahmen aus dem Emissionshandel als Klimafinanzierung besonders gefährdeten Ländern zur Verfügung zu stellen.

Länder, die besonders stark unter dem Klimawandel leiden, fordern seit Jahren eine stärkere finanzielle Unterstützung der Industrienationen für Klimaschutz sowie als Ausgleich für Verluste und Schäden ("Loss and Damage").

COP 27 in Sharm el-Sheikh

Bei der 27. UN-Klimakonferenz in Sharm el-Sheikh geht es um die Zukunft des globalen Klimaschutzes. Ein Team von Klimareporter° ist vor Ort in Ägypten und berichtet mehrmals täglich.

Auf der COP 27 in Sharm el-Sheikh gilt dies als eines der schwierigsten Themen. Vor einem Jahr hatten die EU-Länder auf der COP 26 in Glasgow versprochen, ihre Finanzhilfen zu verdoppeln. Doch nach wie vor gibt es kaum feste Zusicherungen dafür.

Deutschland geht dabei mit einem finanziellen Schutzschirm gegen Klimaschäden voran. Wie genau dieser "Global Shield" ausgestaltet werden soll, ließ Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze bisher unbeantwortet. "Der Global Shield wird sich auf die Versicherung von Klimarisiken und Sozialschutzsysteme konzentrieren. Aber das reicht nicht", bemerkt Carolina Cecilio von E3G.

Auch die von Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigte Anschubfinanzierung von 170 Millionen Euro für den Schutzschild reicht nicht. Angesichts der weltweiten Klimaschäden, die allein dieses Jahr in die Hunderte Milliarden gingen, wären klare finanzielle Zusicherungen der Industriestaaten dringend nötig. Aber die hatte auch Timmermans nicht im Gepäck.

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