Klimareporter°: Frau Otto, in Ihrem letzten Buch "Klimaungerechtigkeit" geht es laut Untertitel darum, "was die Klimakatastrophe mit Kapitalismus, Rassismus und Sexismus zu tun hat". Das Buch beginnt mit dem Begriff des "klimafossilen Narrativs". Was ist damit gemeint?
Friederike Otto: Damit meine ich, dass die gesamte Art, wie wir unsere Gesellschaft strukturieren, darauf abzielt, dass die Welt so bleibt, wie sie ist. Denn der Status quo gilt als die beste aller möglichen Welten.
Das zeigt sich beispielsweise, wenn wir nach extremen Wetterereignissen die Strukturen wieder aufbauen: Als Optimum gilt, wenn alles so bleibt wie vorher. Wir hinterfragen das überhaupt nicht.
Und auch unsere Ideenwelt zielt darauf ab, dass die Welt gleich bleibt.
Was heißt das – unsere Ideenwelt zielt darauf ab?
Es hinterfragt zum Beispiel niemand, dass Städte für Autos gebaut sind. Als wäre es ein natürlicher Zustand, dass unsere Städte so aussehen, wie sie aussehen. Auch hier in London denkt bei dem Vorschlag, die Stadt autofrei zu machen, kaum jemand darüber nach, ob das eine sinnvolle Idee ist. Stattdessen heißt es sofort: "Um Gottes willen!" Als wäre so etwas gar nicht möglich.
Ähnlich in Kinofilmen. Ganz egal, worum es in dem Film geht: Beim Happy End fährt das glückliche Paar in einem Cabrio über eine Straße. Dieses Bild ist der Inbegriff von Freiheit und von einer offenen Zukunft.
Aber für diese Szene braucht man eine zubetonierte Straße und einen Führerschein. Und vor allem braucht man dafür fossile Energie. Diese Bilder beruhen also ganz wesentlich auf dem fossilen Narrativ.
Deswegen brauchen wir neue und vor allem positive Zukunftserzählungen, schreiben Sie im Buch. Haben Sie seitdem etwas gehört oder gelesen, wo Sie dachten: "So sollten wir über die Zukunft reden!"
Neulich habe ich den Roman "A Psalm for the Wild-Built" von Becky Chambers gelesen, der übrigens auch schon ins Deutsche übersetzt wurde. Das war für mich die erste "echte" Utopie, bei der ich dachte: Ja, in die Richtung könnte man denken.
Es war auch das erste Mal, dass in einer Story die globale Erwärmung nicht der eigentliche Fokus war und sich trotzdem alles konsistent und stimmig anfühlte: Der Roman spielt in einer Welt nach dem Klimawandel. Die Hälfte des Planeten ist dort der Natur überlassen, menschliche Aktivitäten sind dort untersagt. Auf der anderen Hälfte lebt eine Gesellschaft, die nicht auf fossilen Brennstoffen oder Ausbeutung basiert.
Friederike Otto
ist Klimaforscherin am Grantham Institute des Imperial College London und Mitglied im Herausgeberrat von Klimareporter°. Die Physikerin und promovierte Philosophin ist Mitbegründerin der Zuordnungsforschung (attribution science), die den Anteil des Klimawandels an Extremwetterereignissen berechnet. Sie leitet die Forschungsgruppe World Weather Attribution (WWA).
Können Sie näher beschreiben, wie es im "menschlichen Teil" des Planeten aussieht?
Dort gibt es kaum Dörfer und auch kaum riesige Metropolen. Stattdessen wohnen die meisten Menschen in mittelgroßen Städten. Diese sind nur so groß, dass die Gemeinschaft fast alle Alltagsbedarfe in der Umgebung oder in der weiteren Region produzieren kann. Kaum ein Produkt muss man über die ganze Welt transportieren.
Die Städte sind auch so gebaut, dass alles, was man für den täglichen Bedarf braucht, zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar ist. Für längere Reisen existieren öffentliche Verkehrsmittel – das ist allerdings eher eine Magnetschwebebahn als ein Zug. Zudem gehört der Verkehr im Roman allen. Niemand besitzt ihn. Deswegen kann ihn auch jede:r nutzen.
Mal angenommen, wir hätten es in zehn, zwanzig, dreißig Jahren tatsächlich geschafft, die Klimakrise zu bekämpfen und in einer ähnlichen Utopie zu leben. Was denken Sie: Wie sind wir da hingekommen?
Indem wir radikal Ungleichheit bekämpft haben.
Indem wir die ärmsten Menschen ins Zentrum der Politik gestellt und gefragt haben: Wie können wir Politik so gestalten, dass es für sie am besten ist? Ich denke, dann entstehen Gesellschaften, die auch mit dem Klimawandel umgehen können.
Könnten Sie das etwas genauer erklären?
Wenn man sich immer überlegt: "Würde das, was ich jetzt tue, die Ärmsten besser dastehen lassen als jetzt?" Dann müssten alle selbstverständlich auf Gesundheitsversorgung zugreifen können. Ebenso auf Transport. Aber diese Dinge müssten in einer Form existieren, die auch tatsächlich allen offenstehen kann. Wenn man das konsequent durchdenkt, löst sich der Klimawandel fast automatisch mit.
Es sind ja auch die Ärmsten, die vom Klimawandel am stärksten betroffen sind.
Ja, betroffen sind immer die, die ohnehin marginalisiert sind. Das sind aber nicht nur arme Menschen. Es können auch Frauen sein. Und bei Hitzewellen leiden Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen besonders. Sie alle können weniger am öffentlichen Leben teilhaben und damit auch weniger auf ökonomische Märkte zugreifen.
Was lässt sich dagegen machen?
Direkt mit den Menschen vor Ort zusammenarbeiten. Man muss gemeinsam mit der betroffenen Community überlegen: Wie können wir Strukturen verbessern? Wie können wir Frühwarnsysteme stärken? Eigentlich alle wissenschaftliche Forschung zu dem Thema zeigt, dass das der effektivste Weg ist.
Ein Beispiel ist Bangladesch. In den 1970er Jahren gab es dort bei jedem Zyklon horrende Todeszahlen. Heute ist die Zahl der Toten sehr niedrig. Das wurde durch bessere Frühwarnsysteme erreicht. Die Communityleader laufen heute mit Megafon durch die Straßen und warnen: "Ein Zyklon kommt." Außerdem erhalten die Menschen mittlerweile Warnungen auf ihrem Handy.
Zudem baute man überall in Bangladesch Zyklon-Shelter. Doch anfangs hatten zu viele Frauen Angst, in diese Unterkünfte zu gehen: Sie fürchteten Vergewaltigungen. Deshalb bauten viele Gemeinden statt eines großen Shelters mehrere kleine. Die Gesamtzahl der Schutzplätze war ähnlich, aber die kleinen, lokalen Konstruktionen reduzierten die Angst der Frauen vor sexuellen Übergriffen – die die Frauen ja auch nicht erfunden haben.
Man muss also die Lösungen auf die Bedürfnisse der Menschen vor Ort abstimmen.
Lesen Sie hier den ersten Teil des Interviews: "Extremwetter hängen linear mit der globalen Erwärmung zusammen"

Jetzt eilt es, noch grössere als ökologische Gefahr ist im Verzug. Hat sich Frau Otto auch mit dem akut grassierenden Militarismus auseinandergesetzt?
Ebenso wenig über die heutigen Kriege und Abhängigkeiten zwischen Hegemon und Vasallen: 1/2 Billion € brachte der Merz dem Trump als Gastgeschenk mit.
Und die Armen und die soziale Dimension der Ökologie und der Öko-Politik in Deutschland? - Sie war für diesen Artikel angekündigt, aber kommt nicht vor. Oder habe ich etwas überlesen?