Riesige, halb leere Werkhalle, einige Rollen und Stapel mit Metallblech liegen auf dem glatten Boden, alles ist in gelbliches Grün getaucht.
Metallverarbeitendes Unternehmen in Russland: Umweltberichte werden früher oder später zum Standard. (Foto: Pawel Lossewski/​Shutterstock)

Die sogenannte ESG-Agenda im Unternehmenssektor war in Russland eines der wichtigsten Themen des Jahres 2021. ESG steht für environment, social, governance – Umweltschutz, Soziales und gute Unternehmensführung.

Laut einer Umfrage der Ratingagentur Expert RA hatte von 120 russischen Unternehmen außerhalb des Finanzsektors jedes zweite eine Umweltstrategie verabschiedet, weitere zwölf Prozent planten, das bis Ende 2023 zu tun. Die Umfrage wurde vor dem 24. Februar 2022 durchgeführt.

Bislang gibt es in Russland kein Gesetz, das Unternehmen zur Berichterstattung über nichtfinanzielle Kennzahlen verpflichtet. Gleichzeitig hat die Zentralbank einheitliche Leitlinien für die Offenlegung von ESG-Indikatoren verabschiedet. Die rasante Entwicklung des ESG-Themas bei russischen Unternehmen ist in erster Linie auf äußere Faktoren und weniger auf die Regulierungspolitik zurückzuführen.

Die Entwicklung von Nachhaltigkeitsstrategien war eine wichtige Botschaft an ausländische Investoren und Käufer über die Bereitschaft der jeweiligen Unternehmen, sich an entsprechende Regeln zu halten. So wollten die russischen Unternehmen neue Kunden gewinnen oder Zugang zu einer günstigeren Finanzierung erhalten.

Russische Banken haben sich ebenfalls aktiv an der ESG-Agenda beteiligt. Etwa zehn Banken sind dazu übergegangen, gegenüber ihren Kunden mit ESG-Kennzahlen zu arbeiten.

So hat beispielsweise die Sberbank, die größte russische Bank, bis Mitte 2021 grüne Kredite in Höhe von 75 Milliarden Rubel vergeben. Darüber hinaus ist auf Initiative der Sberbank eine nationale ESG-Allianz entstanden, der etwa 30 Unternehmen aus ganz unterschiedlichen Branchen angehören, die zehn Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts repräsentieren.

Die ESG-Aktivitäten der Wirtschaft stießen allerdings auch auf Kritik. Experten der Higher School of Economics analysierten die nichtfinanzielle Berichterstattung der größten russischen Unternehmen und fanden eine Reihe von Beispielen für "Impact Washing": Es sei weit verbreitet, dass Unternehmen ihre Anteilseigner in die Irre führen, also die tatsächlichen Ergebnisse von sozialen und ökologischen Programmen verschweigen oder ihre Umweltfreundlichkeit nur formal verbessern.

So hat beispielsweise ein Unternehmen der Metallindustrie eine Tochtergesellschaft gegründet und seine CO2-intensiven Aktiva an diese übertragen. Im Ergebnis kann die Muttergesellschaft nun einen Preisaufschlag für "grüne" Metalle erhalten, während sich am Umfang der Emissionen nichts geändert hat.

Ein Teil der Firmen will weitermachen

Nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine herrschte in der ESG-Community eine defätistische Stimmung, was die Zukunft von nachhaltigem Wirtschaften in Russland anging. Doch schon wenig später äußerten sich Politiker und Vertreter von Großunternehmen hoffnungsvoller.

Die Außenwirtschaftsbank und nationale Entwicklungsholding VEB zeigt sich optimistisch. "Die ESG-Agenda gewinnt weiter an Fahrt, sie wird fokussierter, substanzieller und konkreter, sie richtet sich stärker am Wohl der Menschen und der Arbeit im Land aus", erklärte VEB-Vize Alexej Miroschnitschenko.

Experten und Marktteilnehmer sind der Ansicht, dass bei der Entwicklung der ESG-Agenda die nationalen Besonderheiten des Landes berücksichtigt werden müssen. Andrej Scharonow, Vorsitzender der russischen ESG Alliance, sagte, dass Russland seine eigenen lokalen Standards schaffen werde, sowohl für grüne Finanzierung als auch für ESG-Ratings.

"Eine der größten Herausforderungen für die ESG Alliance besteht darin, die Infrastruktur in Bezug auf Berichterstattung, Standards, Ratings, Rankings und so weiter anzugleichen", erläuterte Scharonow. "Dabei darf es sich nicht um etwas vollständig Hausgemachtes handeln, das dann mit großem Aufwand in internationale Sprachen übertragen werden muss. Aber es wäre eine nationale Lösung, die eine durchaus autonome Existenz führen könnte."

Neben den nationalen Standards hat sich die ESG-Allianz zum Ziel gesetzt, die Zusammenarbeit mit den BRICS-Ländern, der Eurasischen Wirtschaftsunion EAWU und dem asiatisch-pazifischen Raum auszubauen. Die Sberbank hat bereits die Gründung einer Initiative "Nachhaltiges Asien" vorgeschlagen, die die Beteiligung der EAWU-Länder – Russland, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan und Armenien – an der Gestaltung einer einheitlichen Klima- und Nachhaltigkeitspolitik vorsieht.

Eine Reihe von Unternehmen hat ebenfalls ihre Bereitschaft signalisiert, weiter an einer nachhaltigen Entwicklung mitzuarbeiten. Das Stahlwerk Nischni Tagil hat erklärt, es habe nicht die Absicht, sein Umweltprogramm zu reduzieren. MTS, einer der größten russischen Mobilfunkbetreiber, hat ein ESG-Zentrum eröffnet, das sich mit der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie des Unternehmens befassen soll. Ingosstrach, eine der größten russischen Versicherungsgesellschaften, hat im April einen Nachhaltigkeitsbeirat berufen.

Für die Banken haben sich erhebliche Komplikationen ergeben, weil gerade diejenigen von ihnen, die die ESG-Agenda in Russland am stärksten vorantreiben, von den Sanktionen betroffen sind. Ungeachtet dessen hat die Sberbank erklärt, dass sie an ihrem Ziel festhalten will, 2030 die CO2-Neutralität des operativen Geschäftsbereichs zu erreichen.

Verfügbare Mittel gehen stark zurück

Die wichtigste negative Auswirkung der Sanktionen gegen die Banken ist jedoch der starke Rückgang der verfügbaren Mittel für ESG-Projekte russischer Unternehmen. Die Sberbank teilte mit, dass sie im März bereits 19 Anträge auf Finanzierung "grüner" Projekte erhalten habe. Wie die Bank in dem Bereich künftig arbeiten wird, ist aber noch nicht ganz klar.

Mittlerweile haben die Unternehmen auch begonnen, der sozialen Komponente von ESG Aufmerksamkeit zu schenken. Das in erster Linie dem notwendigen Erhalt von Arbeitsplätzen und dem diesbezüglichen staatlichen Druck geschuldet. Die sozialen ESG-Grundsätze einzuhalten, ist für die meisten Unternehmen auch einfacher, da sie über die entsprechende Expertise verfügen, während der Umweltaspekt nach wie vor mit viel Arbeit und extrem hohen Kosten verbunden ist.

Eine im Frühjahr von der Green Brands League durchgeführte Umfrage unter russischen Unternehmen hat ergeben, dass 78 Prozent der Marktteilnehmer die Zusammensetzung ihrer ESG-Entwicklungsteams nicht verändert haben. 41 Prozent der Befragten beabsichtigen, ihre Nachhaltigkeitsberichte in unveränderter Form vorzulegen. Fast die Hälfte der Unternehmen will die ESG-Agenda weiterhin international verbreiten, wobei der Schwerpunkt in Asien liegt.

Die Umorientierung der ESG-Agenda russischer Unternehmen auf asiatische Länder ist nicht zufällig. Auf der globalen Bühne kann ESG als Reputationsfrage betrachtet werden, die nicht nur ökologische und soziale Aspekte beinhaltet, sondern auch weiter gefasste Gesichtspunkte wie Gleichstellung der Geschlechter, Einhaltung von Menschenrechten und Entwicklung demokratischer Institutionen der Unternehmensführung.

In einer Zeit, in der selbst die Aufrufe einzelner Unternehmen zu Friedensverhandlungen – wie es zum Beispiel der Erdölkonzern Lukoil getan hat – keine Wiederaufnahme in die europäische Business-Community gewährleisten, stellt die neutrale Haltung der asiatischen Länder zum aktuellen militärischen Konflikt für die russische Wirtschaft eine Chance dar, mit dem Ausland Handel zu treiben.

Insgesamt lässt sich unter den Experten eine verhalten optimistische Stimmung beobachten. Den Marktteilnehmern ist klar, dass Nachhaltigkeit zwar in den Hintergrund tritt, aber nicht verschwinden wird. Der Staat zieht seine früheren Zusagen nicht zurück, und die Unternehmen erklären sich bereit, auch zukünftig an der ESG-Transformation zu arbeiten.

Die Praxis zeigt, dass Nachhaltigkeit keine Unternehmenssphäre ist, in der ausschließlich die Verhältnisse des Marktes wirken. Wichtig für ESG ist die Ausgewogenheit sämtlicher Ziele für nachhaltige Entwicklung – einschließlich der Ziele 16 und 17: Frieden und internationale Zusammenarbeit. 

Den Beitrag in russischer Sprache finden Sie hier.

Wie diese Artikelserie entstand

Im August 2021 begannen unabhängige Journalist:innen und Expert:innen sich in einem Projekt der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) mit der Frage zu befassen, wie Russland das Pariser Klimaabkommen einhalten und zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise finden kann. Das Land ist weltweit einer der größten Emittenten von Treibhausgasen, seine Ökonomie ist eng mit der Nutzung fossiler Brennstoffe verbunden. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine löste zudem eine scharfe Debatte aus, welche Rolle das Land in der internationalen Klima-Gemeinschaft noch einnehmen kann.

Grafik: Links ein Wärmekraftwerk mit rauchenden Schornsteinen und dampfenden Kühltürmen, rechts ein Nadelwald und ein großes Windrad – dazu der Schriftzug: Wie steht es um die Klimapolitik in Russland?
Illustration: Kristin Rabaschus

Klimareporter° möchte zu dieser Debatte beitragen und veröffentlicht im Rahmen des DGO-Projekts entstandene Texte in einer Beitragsserie.

Aufgrund der Repressalien, denen Journalist:innen und Expert:innen seitens der russischen Regierung ausgesetzt sind, werden einige Texte unter Pseudonym veröffentlicht.

Klimareporter° arbeitet dabei neben der DGO mit weiteren Organisationen zusammen, darunter Stiftungen wie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Aufgrund der schwierigen Situation für demokratisch orientierte Organisationen in Russland können nicht alle Unterstützer:innen öffentlich genannt werden. Beteiligt sind auch weitere Medien wie DW Russland und das Journalistennetzwerk N-Ost.

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