Klimareporter°: Herr Tarnowski, seit 2006 ist die Heinrich-Böll-Stiftung mit einem Büro in Peking vertreten. Wie groß ist der Spielraum für zivilgesellschaftliche Organisationen und Kooperationen in China heute noch?

Arthur Tarnowski: Der Handlungsspielraum ist begrenzt. Das zeigt sich schon darin, dass der Begriff der "Zivilgesellschaft" in der offiziellen politischen Kommunikation kaum verwendet wird. Dahinter steht das Selbstverständnis des Staates, der sich selbst als alleinige Vertretung gesellschaftlicher Interessen sieht – und entsprechend nicht bereit ist, diesen Anspruch aufzugeben.

 

Dieser Anspruch wurde in den vergangenen zehn Jahren weiter verfestigt, auch durch konkrete gesetzliche Verschärfungen. Dazu zählen striktere Aufsichts- und Berichtspflichten, die für unsere Partner in China ebenso gelten wie für ausländische zivilgesellschaftliche Organisationen.

Ein entscheidender Einschnitt war das Gesetz zur Regulierung ausländischer Nichtregierungsorganisationen, das seit 2017 in Kraft ist und zahlreiche Beschränkungen eingeführt hat, die auch uns als internationale Stiftung betreffen und einen engen Rahmen setzen.

Allerdings ist es ein verbreitetes Missverständnis, dass in China überhaupt keine zivilgesellschaftlichen Handlungsspielräume mehr existieren. Dem ist nicht so. Aber sie sind anders, kleinteiliger und kontextabhängiger.

Dafür ist es wichtig, auch die historische Entwicklung im Blick zu haben. Mit der Reform- und Öffnungspolitik Chinas haben zivilgesellschaftliche Akteure gerade dort Verantwortung übernommen, wo der Staat dies nicht immer konnte oder wollte.

Seit den 1990er und 2000er Jahren haben sich viele Organisationen professionalisiert, internationale Kontakte geknüpft und gelernt, mit sich ständig verändernden Rahmenbedingungen umzugehen. Sie verstehen sich bis heute als lernende Organisationen – mit Strategien, die zu ihrem jeweiligen Kontext passen und dort auch gebraucht werden.

Klima- und Umwelt-NGOs haben in der Tendenz mehr Spielräume als Organisationen und Aktivist:innen, die zu anderen Themen arbeiten. Woran liegt das?

Umwelt- und Klimaschutz gehören neben Bildung zu den wenigen Bereichen, in denen zivilgesellschaftliche Spielräume zumindest partiell erhalten geblieben sind und NGOs weiterhin aktiv sein können. Dennoch bleiben NGOs in China eingebettet in einen autoritären Kontext und agieren mit spezifischen Formen von Partizipation und Kommunikation, die sich nicht ohne Weiteres mit unseren Vorstellungen von zivilgesellschaftlicher Mitgestaltung vergleichen lassen. Das kann bedeuten, dass manche Organisationen ausschließlich innerhalb oder in enger Kooperation mit staatlichen Strukturen arbeiten – oder sogar im Auftrag des Staates bestimmte Ziele verfolgen. 

Porträtaufnahme von Arthur Tarnowski.
Bild: privat

Arthur Tarnowski

leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Peking. Zuvor arbeitete er bei den Baden-Badener Unter­nehmer­gesprächen mit Führungs­kräften der deutschen Wirtschaft zusammen und verantwortete bei der Stiftung Mercator das China-Programm und das Senior-Fellowship-Programm. Tarnowski hat Chinastudien in Leiden (Niederlande), Bochum, Peking und Jinan (China) studiert und für die Friedrich-Ebert-Stiftung gearbeitet.

Dass die Spielräume für Klima- und Umwelt-NGOs insgesamt größer sind, liegt vor allem an den inhaltlichen Überschneidungen zwischen ihnen und der chinesischen Regierung, die selbst umwelt- und klimapolitische Ambitionen verfolgt. Diese gemeinsame Interessenlage hat dazu geführt, dass Umweltorganisationen ihre Räume nicht nur verteidigen, sondern punktuell auch erweitern konnten – aus unserem eigenen Partnerumfeld trifft dies etwa auf die "China Zero Waste Alliance" zu. Die Allianz konnte ihre Netzwerke ausbauen, neue Formate etablieren und dadurch sehr wirksam bleiben.

Die Grenzen des Machbaren werden hier immer wieder aufs Neue ausgelotet. Der Staat reagiert in einer Art und Weise, die man vielleicht als "konditionierte Toleranz" bezeichnen kann.

Wie arbeitet die China Zero Waste Alliance? Wie funktioniert die Zusammenarbeit in diesem Bereich?

China ist der weltweit größte Produzent und Verbraucher von Plastik. Durch den Boom von Einwegverpackungen, der vor allem auf das rasante Wachstum des Online-Handels und der Lieferdienste zurückgeht, hat sich die Situation noch verschärft. Allein im Bereich Essenslieferung ist von rund 80 Millionen Bestellungen täglich die Rede.  

Die China Zero Waste Alliance ist ein Netzwerk aus Nichtregierungsorganisationen, Aktivist:innen, Jurist:innen und Wissenschaftler:innen, das sich dem Thema Abfallvermeidung widmet. Alle bringen gezielt ihre Expertise ein und äußern Politikempfehlungen, etwa bei der Formulierung und Bewertung von Umweltgesetzen oder bei der Frage, wie wirksam Einwegplastikverbote auf Provinz- oder Stadtebene umgesetzt werden. Dabei sind sie keineswegs zurückhaltend mit ihren Anliegen. Ihre Mitglieder äußern sich öffentlich, organisieren Workshops, Diskussionsformate und runde Tische – häufig auch im Austausch mit offiziellen Stellen.

Besonders bemerkenswert ist dabei die horizontale Vernetzung innerhalb der Allianz – ein für China vergleichsweise junges Phänomen im zivilgesellschaftlichen Bereich. Dahinter steht die Überzeugung, dass sich Anliegen effektiver vertreten lassen, wenn unterschiedliche Akteure ihre Kräfte bündeln. Es ist aber auch eine pragmatische Reaktion auf knappe Ressourcen: Fachwissen muss geteilt und Finanzmittel müssen gemeinsam genutzt werden, um überhaupt arbeitsfähig zu bleiben.

Als ausländische Stiftung unterstützen wir dieses Netzwerk und stehen mit ihm im engen Austausch – auch über politische Entwicklungen. Das so ein Austausch gelingt, ist das Ergebnis jahrelanger, sensibler Vertrauensarbeit. 

Abfall-Sammelstation mit vier Einwurfstellen für Sondermüll, Recycelbares, Bioabfälle und Restmüll.
Mülltrennung an einer Sammelstelle in Shanghai. (Bild: WQL/​Wikimedia Commons)

Wo sehen Sie Chancen, aber auch Herausforderungen für die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China?

Gerade in Zeiten, in denen die politischen Beziehungen auf Regierungsebene angespannt sind und Austauschformate eingeschränkt werden, gewinnt die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit zusätzlich an Bedeutung. Sie schafft Räume und Beziehungen, in denen Begegnung und Dialog möglich sind – abseits der politischen Diskurse und der öffentlichen Debatten.

Die Bedingungen für eine solche Zusammenarbeit sind aber voraussetzungsreich. Wie erwähnt, ist dies auch auf das unterschiedliche Verständnis von Zusammenarbeit und die unterschiedliche Erwartungshaltung daran zurückzuführen. Die Verständigung über diese Asymmetrien ist eine notwendige Bedingung für gelungene zivilgesellschaftliche Partnerschaften.

Offiziell wird der Beitrag des zivilgesellschaftlichen Austauschs in der deutschen China-Strategie als Fundament der deutsch-chinesischen Beziehungen hervorgehoben – als tragende Säule für deren Stabilität. Natürlich ist es schön, dass das gewürdigt wird, aber es scheint mir weniger eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation als vielmehr eine Projektion in die Zukunft zu sein.

Wenn wir die aktuelle Situation betrachten, gibt es verhältnismäßig wenig zivilgesellschaftlichen Austausch, und mit Blick auf deutsche Institutionen und Organisationen habe ich eher den Eindruck, dass sie nicht mehr machen können oder wollen.

Woher kommt diese Zurückhaltung – und warum plädieren Sie dafür, es anders zu machen?

Zum einen gibt es schlichtweg weniger Fördermittel – sowohl aus öffentlichen als auch aus privaten Quellen. Zum anderen prägt ein zunehmend negatives Bild Chinas in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland die Möglichkeiten und den Willen zur Zusammenarbeit, was aber natürlich zuallererst der repressiven Situation hier vor Ort geschuldet ist. Nicht zuletzt ist dies auch der Grund, warum die Zahl der deutschen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die in China aktiv sind, überschaubar bleibt.

Trotz dieser Herausforderungen glaube ich an die Chancen, die solche Kooperationen bieten. Für unsere Arbeit ist das besonders relevant: Im Klima- und Umweltbereich verstehen wir dadurch nicht nur die fachliche Ebene besser, sondern lernen vor allem auch mehr über die Arbeitsrealitäten, Strategien und Zwänge unserer chinesischen Partner.

Dieses Wissen hilft uns, politische und gesellschaftliche Entwicklungen besser zu verstehen und auch zu reflektieren, wie wir in Deutschland über China sprechen und wie wir Austausch gestalten. Wenn Partner berichten, dass sich etwas verändert oder verschärft, ist das ein Signal, das wir ernst nehmen sollten.

Die Zusammenarbeit bietet also nicht nur fachliche, sondern auch politische und gesellschaftliche Lernerfahrungen, die im deutsch-chinesischen Dialog unbedingt erhalten und weiterentwickelt werden sollten.

Was beschäftigt die Umwelt- und Klimaorganisationen, mit denen Sie im Austausch sind, zurzeit besonders?

Das hängt stark davon ab, mit wem man spricht. In unserem Partnerumfeld werden derzeit häufig Klimaextreme und die Anpassung an Extremwetterereignisse besprochen. Dieses Thema ist für China von großer Bedeutung – nicht nur, weil extreme Wetterereignisse in den vergangenen Jahren häufiger und intensiver geworden sind, sondern auch, weil ihre Auswirkungen deutlich spürbar sind. 

Chinas Klima- und Umweltpolitik

China ist der größte Treibhausgasemittent der Welt, treibt aber auch den Ausbau der erneuerbaren Energien am schnellsten voran. Die Volksrepublik ist bei vielen "grünen" Technologien führend – und hat eine Schlüsselrolle bei der Weiterverarbeitung von Rohstoffen wie Kobalt und Lithium. Während China in der internationalen Klimapolitik eine prominente Position innehat, kommt es im Land immer wieder zu Protesten gegen Umweltverschmutzung. Die Serie wirft ein Auge auf Akteure und Debatten, Gesetze und Industrien in China.

In den sozialen Medien, aber auch bei Besuchen in ländlichen Regionen berichten unsere Partner von den dramatischen Herausforderungen, die Dürre, Starkregen und Überschwemmungen mit sich bringen. Solche Ereignisse offenbaren besonders im urbanen Raum die großen Defizite bei Infrastruktur und Katastrophenschutz und zeigen, wie dringend Anpassungsmaßnahmen sind. Die Entwicklung von Schwammstädten und andere urbane Strategien zum Umgang mit Extremwetter, auch mit Hitzewellen, spielen in den Diskussionen eine große Rolle.

Darüber hinaus stehen die sozialen Folgen dieser Klimaextreme für besonders verletzliche Bevölkerungsgruppen im Fokus. Menschen, die ohnehin in prekären Lebensverhältnissen stecken, sind am stärksten von Umweltkatastrophen betroffen. Zivilgesellschaftliche Organisationen engagieren sich hier, um diese Zusammenhänge sichtbar zu machen und die Debatte voranzutreiben.

Ein anderes Feld sind strategische Umweltklagen. Zur "public interest litigation", also Rechtsstreitigkeiten im öffentlichen Interesse, gab es wichtige gesetzgeberische Veränderungen seit 2015. Auch internationale Umweltrechtsorganisationen wie Client Earth arbeiten dazu viel. Wie beurteilen Sie die Möglichkeit, dass NGOs nun Fälle von Umweltgefährdung vor Gericht bringen können?

Das aktuelle Umweltschutzgesetz von 2015 feiert in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen. Wir nehmen das Jubiläum zum Anlass, in unserem Büro stärker darüber zu informieren, was das Gesetz erreicht hat und wo es noch Missstände gibt.

Diese Form der strategischen Umweltklage wurde durch jene Gesetzesänderungen seit 2015 möglich – und ist ein wichtiger Fortschritt, zu dem auch unsere Partner beigetragen haben. Die Gesetzgebung von 2015 war eine umfassende Überarbeitung bestehender Regelungen. Damals fanden intensive politische und juristische Debatten statt, die in zwei zentralen Neuerungen mündeten.

Erstens wurden die Haftungsregelungen für Umweltverschmutzung deutlich verschärft: Umweltverschmutzer können jetzt besser zur Rechenschaft gezogen werden. Zweitens erhielten NGOs das Recht, sogenannte Environmental Public Interest Litigations einzureichen, eine Art Umweltverbandsklage. Das ist ein entscheidender Schritt hin zu mehr öffentlicher Beteiligung im Umweltrecht.

Die Auswirkungen dieser Reform lassen sich auch institutionell fassen: Seit Inkrafttreten des Gesetzes wurden an den höheren Volksgerichten aller 31 Provinzen spezialisierte Umwelt- und Ressourcen-Kammern eingerichtet. Heute gibt es nach offiziellen Angaben fast 3.000 Gerichtsstellen im ganzen Land, die sich mit ökologischen und umweltrechtlichen Fragen befassen. Und laut dem chinesischen Zivilministerium sind etwa 700 NGOs grundsätzlich berechtigt, entsprechende Klagen einzureichen. Das ist – zumindest auf dem Papier – ein beachtlicher Fortschritt.

 

Und wie sieht es in der Praxis aus?

Die Praxis erzählt eine andere Geschichte. In der Realität werden über 90 Prozent der Fälle im Bereich des Umwelt-Interessenrechts nicht von NGOs, sondern von der Staatsanwaltschaft eingeleitet. Von den rund 700 klageberechtigten Organisationen haben nach unseren Informationen weniger als 30 tatsächlich jemals eine Klage eingereicht.

Die Gründe umfassen fehlende finanzielle Mittel, begrenzte personelle Ressourcen und vor allem mangelndes juristisches Know-how. Der Zugang zur Umweltjustiz ist also kein rein rechtliches, sondern auch ein strukturelles und ein Ressourcen-Problem. Hinzu kommt: Individuen – also Bürgerinnen und Bürger – haben in China kein Klagerecht in diesen Fällen. Es bleibt bei den NGOs – von denen aber nur wenige tatsächlich aktiv werden.

In unseren Projekten versuchen wir deshalb, gemeinsam mit Partnern wie der Chinesischen Universität für Politikwissenschaft und Recht, bei denen es renommierte Wissenschaftler:innen gibt, die sich mit "Public Interest Litigation" einen Namen gemacht haben, gezielt Know-how aufzubauen: Wie funktioniert ein Verfahren? Wie reicht man Klagen ein? Welche Strategien sind erfolgversprechend?

Es sind wichtige Schritte, auch wenn wir finanziell stark begrenzt sind. Der Wissensaufbau bleibt essenziell, wenn man die theoretisch vorhandenen Spielräume auch praktisch nutzen will.

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