Michael Müller. (Bild: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, obwohl die globalen Treibhausgas-Emissionen nicht sinken, legte bis jetzt – eine Woche vor dem Weltklimagipfel – nur ein Drittel der Staaten neue Klimapläne vor. Rechnet man diese Verpflichtungen zusammen, ergibt sich eine globale CO2-Reduktion um nur zehn Prozent bis 2035. Droht der mit dem Paris-Abkommen eingeleitete Klimaschutz-Prozess zu scheitern?

Michael Müller: Das Ziel des Pariser Klimaabkommens, möglichst unter 1,5 Grad Celsius zu bleiben, ist schon gerissen. Über den Landflächen liegt der durchschnittliche Temperaturwert ohnehin um fast zwei Grad über dem natürlichen Wert.

Wir haben jetzt mehr als 45 Jahre eine drastische Lücke zwischen Wissen und Handeln. Nach dem Kyoto-Protokoll ist auch der Paris-Vertrag gescheitert.

Mir macht sehr zu schaffen, dass bis heute die Wirkmechanismen des neoliberalen Verwertungszwangs in der Klima- und Umweltdebatte zu wenig begriffen sind. So gibt es Vertreter der Umweltverbände, die glauben, die Unternehmen würden durch eine Kooperation mit der Umwelt- und Naturschutzbewegung von sich aus zu einem wirksamen Klimaschutz fähig sein.

Die Hauptakteure sind heute aber die internationalen Unternehmen des Tech-, Arbitrage- und Finanzkapitals. Die setzen alle auf das neue "Wundermittel" künstliche Intelligenz, das mit seinem Energiebedarf nicht mit der Energiewende vereinbar ist. Nein, wir müssen tiefer bohren.

Nichtregierungsorganisationen dürfen nicht zu Mitregierungsorganisationen werden. Sonst verkennen sie ihren Auftrag.

Die EU-Kommission will den ab 2027 geplanten Emissionshandel für Verkehr und Gebäude neu aufstellen. Ein drohender "Energiepreisschock" gerade für osteuropäische Länder soll verhindert werden. Das geht allerdings zulasten der Klimaziele in Europa. Haben wir vom marktwirtschaftlichen Instrument Emissionshandel zu viel erwartet?

Ich war immer für eine aktive Industrie- und Dienstleistungsstrategie, die auch eine Bepreisung der Treibhausgase in einer berechenbaren Form einbezieht. Den Emissionshandel – dessen Hauptbefürworter in der Einführungsphase auch große Ölkonzerne waren – habe ich stets kritisch gesehen. Ich verweise dazu auch auf mein Sondervotum in der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Bundestages von 2013.

Wenn die EU an ihrem "Green Deal" festhalten will, muss sie das ganze Instrumentarium neu bewerten und stimmig aufeinander abstellen. Sie muss die Klimaziele verschärfen und zu einer europäischen Innovationsstrategie kommen, die auch einen Grenzsteuerwertausgleich einbezieht. Dafür muss sie sich von der neoliberalen Ideologie lösen und eine umfassende Strategie der sozial-ökologischen Gestaltung der Transformation vorlegen.

Die Wissenschaftlervereinigung VDW fordert die im Grundgesetz garantierte Freiheit der Wissenschaft ein. Im kürzlich veröffentlichten "Hamburger Manifest" appelliert sie an die Verantwortung der Forscherinnen und Forscher, sich an der Lösung existenzieller Konflikte zu beteiligen und sich gegen Versuche der Einmischung zu wehren. Sind diese Befürchtungen nicht etwas übertrieben?

Die Klimadebatte war in Deutschland anfangs auch davon bestimmt, dass das zuständige Forschungsministerium versuchte, die wichtige und mutige Warnung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft vor einem menschengemachten Klimawandel in der Zeit der Bundestagswahl 1987 zu unterdrücken.

Betroffen war davon auch Hartmut Graßl, der zu den treibenden Kräften für die Warnung in der Wissenschaft gehörte.

Hinzu kommt, dass wir heute einen "Meinungskonformismus" erleben, der sich mit dem russischen Angriff gegen die Ukraine immer mehr verschärft und ausgebreitet hat. Ich sehe in dem Hamburger Manifest einen wichtigen Anstoß, die Demokratie zu stärken, ja sie gegen den Konformismus zu verteidigen. Auch diese Resilienz braucht unsere Gesellschaft.

Medien haben einen wesentlichen Einfluss auf die Wahrnehmung der Klimakatastrophe. Dass Medientechnologien Teil der Ursachen für die aktuelle Krise sind, aber auch Teil der Lösung sein können, macht ein jetzt veröffentlichtes Positionspapier von Medienwissenschaftler:innen deutlich. Sehen Sie eine Mitschuld bei den Medien, dass Klima deutlich an Stellenwert verloren hat?

Die Form der Öffentlichkeit ist immer mitentscheidend für den "Mut zur Mündigkeit", zu dem Kant aufruft. Wir müssen fähig sein, uns durch Aufklärung und Vernunft ohne "Anleitung" Dritter eine Meinung zu bilden.

Darum geht es auch in der Umwelt- und Klimadebatte, um den Mut zur Mündigkeit. Ich beobachte mit Sorge, dass es in den Medien weniger Journalisten mit Öko-Kompetenz gibt. Natürlich gibt es Ausnahmen. Die Klimareporter gehören dazu und sind wichtiger denn je.

 

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Die Zahl von erwarteten 50.000 Teilnehmern auf der COP 30 in Belém hat mich vom Hocker gehauen. Die Weltklimakonferenzen werden immer mehr zu einer hochsymbolischen Veranstaltung.

Die Umweltverbände müssen sich fragen, warum sie da noch hinfahren und das Klima mit ihren Flugemissionen belasten. Zumal diesmal faktisch auch nichts zu beschließen ist und wichtige Fragen wie zum Beispiel Klimakrise und Kriegsgefahren nicht auf der Tagesordnung stehen.

Fragen: Jörg Staude