Zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten wird in Großbritannien wieder ein neues Kohlebergwerk entstehen – obwohl das Land bis 2025 den Kohleausstieg schaffen und bis 2050 netto null CO2-Emissionen erreichen will.
Die Regierung von Boris Johnson hat nun den Weg frei gemacht für eine neue Mine in der Grafschaft Cumbria im Nordwesten Englands.
Die Gegend war Jahrzehnte lang Kohleregion. 1986 schloss das letzte Bergwerk. Nun soll es bald wieder losgehen mit dem Kohleabbau. Schätzungen zufolge wird dadurch ein zusätzlicher CO2-Ausstoß von 8,4 Millionen Tonnen jährlich verursacht.
Wie passt das mit der von Großbritannien angestrebten Dekarbonisierung zusammen?
Die Antwort lautet: Leider sehr gut.
Die neue Mine ist ein Lehrstück, dass es auch bei Klimazielen auf das Kleingedruckte ankommt. Um zu beurteilen, wie stark ein Ziel ist, genügt es nicht, auf Jahreszahlen und Prozentpunkte zu schauen. Man muss auch auf die Details achten.
Und die zweite Lektion: Ein Netto-Null-Ziel lässt große Spielräume. So groß, dass unter Umständen auch ein neues Kohlebergwerk darin Platz findet.
Der Reihe nach: Schon seit 2014 treibt der Konzern West Cumbria Mining (WCM) mit großem Aufwand seine Pläne für eine neue Kohlemine voran. Woodhouse Colliery soll das Bergwerk heißen.
Das Unternehmen, das dem auf Bergwerksgeschäfte spezialisierten australischen Investor EMR Capital gehört, vermutet vor der Küste von Whitehaven unter dem Meeresboden 750 Millionen Tonnen Steinkohle.
Von deren Abbau verspricht sich West Cumbria Mining ein gutes Geschäft, da die Steinkohle unter der Irischen See größtenteils für die Stahlproduktion geeignet sein soll. Das Unternehmen spricht denn auch nicht von "Kohle", sondern stets von "metallurgischer Kohle".
"Mindestens 500 neue Arbeitsplätze"
Vor Ort wirbt West Cumbria Mining vor allem mit den neuen Jobs, die durch die Mine entstehen sollen. Wie viele ehemalige Kohleregionen hat auch Cumbria mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Als das letzte Bergwerk schloss, gingen 3.500 Jobs verloren.
Nun soll das neue Bergwerk "500 plus neue Jobs" bringen, sagt WCM. Um was für Arbeitsplätze es sich handelt und ob auch indirekte Beschäftigungseffekte eingerechnet sind, ist dabei nicht ersichtlich.
Auf seiner Website jedenfalls verweist West Cumbria Mining auf eine Studie der National Mining Association der USA aus dem Jahr 2013, wonach eine Kohlemine mit 300 Beschäftigten "indirekt mindestens doppelt so viele Jobs in der Region" schaffe, da die Beschäftigten mehr Geld zur Verfügung hätten und so auch die lokale Wirtschaft ankurbelten.
Anfang Oktober 2020 gab die lokale Verwaltung endgültig grünes Licht für das Projekt.
Das letzte Wort aber hatte London. Entscheidend war das Votum von Robert Jenrick, der dem Kabinett des konservativen Premierministers Boris Johnson als Minister für Wohnungswesen, Gemeinden und Kommunalverwaltung angehört. Er hätte die WCM-Pläne stoppen können.
Mitte Oktober wandten sich 13 unabhängige Klimaexpert:innen in einem offenen Brief an Jenrick und riefen zum Stopp des Projekts auf. Dieses stehe in "direktem Widerspruch" zu den Klimaschutzverpflichtungen, die Großbritannien eingegangen sei, unter anderem mit dem Paris-Abkommen.
Dasselbe forderten auch Initiativen, die sich gegen das Kohleprojekt richten, in einer Petition. Neben dem hohen CO2-Ausstoß verweisen sie darin auch auf den Nuklearkomplex Sellafield, der nur wenige Kilometer von der neuen Mine entfernt liegt.
Wenn in unmittelbarer Nähe zu Sellafield unter dem Meeresboden Kohle abgebaut wird, könnte dies möglicherweise Erdbeben auslösen und zu einer radioaktiven Verseuchung führen, argumentieren sie. Auf dem Sellafield-Gelände werden große Mengen an Atommüll aufbewahrt, von dem Radioaktivität in die Umgebung gelangen könnte.
Minister Jenrick hat sich von den Appellen nicht beeindrucken lassen. Er macht keinen Gebrauch von seinem Recht, die Genehmigung der lokalen Behörden zurückzunehmen, und verzichtet damit darauf, das Projekt zu kippen.
Die Entscheidung solle bei der örtlichen Verwaltung liegen, erklärte der Tory-Minister. Es sei die grundsätzliche Haltung der Regierung, Planungsentscheidungen so weit als möglich den Kommunen zu überlassen.
Damit ist der Weg frei für das erste neue Kohlebergwerk Großbritanniens seit mehr als 30 Jahren.
Auf dem Papier ist alles in Ordnung
Der Clou: Formal passt die Entscheidung sowohl zu dem beschlossenen Kohleausstieg als auch zu dem Netto-Null-Ziel für 2050.
Denn bei dem Kohleausstieg, den Großbritannien 2016 beschlossen hat, wurde kein Enddatum für den Einsatz von Kohle in der Stahlproduktion festgelegt. Der Beschluss betrifft lediglich die Kraftwerke. Sie sollen Ende 2024 komplett geschlossen oder von Kohle auf andere Energieträger umgestellt werden.
Auch das Netto-Null-Ziel ist erreichbar, denn West Cumbria Mining hat seine ursprünglichen Pläne, die Mine 50 Jahre lang zu betreiben, korrigiert. Der Konzern reagiert damit auf die neuen Klimaziele Großbritanniens und verspricht nun, dass 2049 wieder Schluss sein soll – ein Jahr vor dem Zieldatum.
Damit wolle man "den Wandel zu einer Netto-Null-Kohlenstoffwirtschaft anerkennen", lässt WCM verlauten.
Und nicht nur das. Mittlerweile stellt das Unternehmen, dem neuen klimafreundlicheren Zeitgeist entsprechend, seine Pläne regelrecht als Öko-Projekt dar.
Man wolle eine große Kohlenstoff-Senke aufbauen und 250.000 neue Bäume pro Jahr pflanzen, heißt es nun. Sogar beim CO2-Einsparen soll die neu geförderte "Stahl-Kohle" helfen können – indem Kohleimporte etwa aus den USA vermieden würden.
Auf dem Papier mag das alles irgendwie zu den beschlossenen britischen Klimazielen passen. 2025 sind alle Kohlekraftwerke vom Netz, bis 2050 sind netto null Emissionen möglich.
Doch bis dahin werden beim Verbrennen der neu geförderten WCM-Kohle viele Millionen Tonnen CO2 zusätzlich entstehen – und damit das CO2-Budget sprengen, das eigentlich für das 1,5-Grad-Ziel eingehalten werden sollte.