Auch die Ukraine hat Wind. (Bild: Daniel Wehner/​Flickr)

Die Ukraine hat 1986 den Super-GAU von Tschernobyl erlebt, der weiten Regionen in Europa nuklearen Fallout bescherte. Aktuell zeigt die Situation am AKW Saporischschja im umkämpften Südosten des Landes, welche Gefahren mit der Atomkraft verbunden sind. Trotzdem will die Regierung in Kiew auch nach einem Ende des Krieges an der Technologie festhalten und neue Reaktoren bauen.

Doch dagegen regt sich Widerstand. Die Nichtregierungsorganisation Razom We Stand (Wir stehen zusammen) forderte jetzt, die nukleare Stromerzeugung bis 2050 durch alternative Energiequellen zu ersetzen. Dies sei ohne wesentliche Mehrkosten machbar.

In der Ukraine existieren an vier Standorten 15 Reaktorblöcke russischer Bauart. Sie produzierten 2020 rund 52 Prozent des im Land verbrauchten Stroms. Damit hatte die Ukraine einen der höchsten AKW-Anteile in der Versorgung weltweit.

Das AKW Saporischschja, mit sechs Reaktoren und 5.700 Megawatt Leistung das größte AKW Europas, ist abgeschaltet, seitdem russische und ukrainische Soldaten in der Nähe kämpfen.

Anfang dieser Woche war es zum siebten Mal seit Beginn des Krieges vom nationalen Stromnetz abgeschnitten, weswegen die zur Reaktorkühlung weiterhin benötigte Energie erneut über Notstrom-Generatoren bezogen werden musste. Die anderen Atomanlagen im Norden und im Zentrum des Landes produzieren weiter Strom.

Die Regierung in Kiew plant, den Anteil der Atomkraft an der Stromversorgung auch längerfristig bei 50 Prozent zu halten. Dazu müssten die ursprünglich geplanten Laufzeiten der existierenden AKW, die 2025 bis 2030 enden, verlängert und dann auch neue Reaktoren gebaut werden.

Die erneuerbaren Energien, die derzeit rund zehn Prozent liefern, sollen dann ebenfalls rund 50 Prozent liefern, wie Energieminister Herman Haluschtschenko unlängst bei einem Besuch von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) in Kiew sagte, während Kohle- und Gaskraftwerke sukzessive abgeschaltet werden.

AKW werden immer teurer, Erneuerbare billiger

Die Öko-NGO "Razom We Stand" verweist nun auf eine neue Untersuchung des Instituts für Wirtschaft und Prognosen der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine zum zukünftigen Strommix im Land mit Blick auf das Ziel, bis 2050 die CO2-Emissionen auf null senken. Titel: "Wie sieht die Zukunft der Kernenergie in der Ukraine aus?"

Darin wird betont, dass die Stromerzeugung aus neuen Atomkraftwerken ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den billiger werdenden Öko-Energien verlieren werde – unter anderem wegen der hohen Kapitalkosten, der langen Bauzeiten und des Kostenanstiegs, wie er sich zuletzt bei AKW-Neubauten in Frankreich und Finnland gezeigt hat.

Das Atomkraftwerk Saporischschja mit seinen sechs Blöcken sowjetischer Bauart ist das größte Europas. (Bild: Ralf1969/​Wikimedia Commons)

In der Studie heißt es: Werde der Bau neuer großer Kernkraftwerke beschränkt, werde dies keinen Einfluss auf die wirtschaftlichen Wachstumsraten haben. Der Bau neuartiger, derzeit noch nicht serienreifer Klein-Reaktoren wiederum, wie er von der Regierung in Kiew favorisiert wird, könne die Kosten für die Dekarbonisierung des Energiesystems auch unter optimistischen Annahmen nur um 0,2 Prozent senken.

Zudem müssten mögliche Sicherheitsprobleme der AKW-Technologie und langfristige Umweltfolgen, insbesondere im Zusammenhang mit nuklearen Abfällen, bedacht werden.

Studien-Autor Oleksandr Diatschuk resümierte: "Selbst unter den Bedingungen eines optimistischen Szenarios der wirtschaftlichen Erholung der Ukraine gibt es ein ausreichendes Potenzial an erneuerbaren Energiequellen, um unseren eigenen Bedarf zu decken."

Echte Energiewende entwaffnet auch Diktatoren

Politische und wirtschaftliche Eliten versuchten auch in der Ukraine, die Lebensdauer der Atomindustrie zu verlängern, ihr öffentliche Investitionen zuzuführen und einen Übergang zu sauberer Energie zu verzögern, kritisierte die Direktorin von Razom We Stand, Switlana Romanko. Dazu würden auch unerprobte Lösungen wie die "Kleinen Modularen Reaktoren" (SMR) gepusht.

"Wie fossile Brennstoffe ist auch die Kernenergie eine geopolitische Waffe und eine Gefahrenquelle", sagte Romanko. "Seit März letzten Jahres stellt sich jede ukrainische Familie die Frage, ob das Verstecken im Keller uns vor einer Explosion im Kernkraftwerk Saporischschja retten wird."

Um eine echte Energiewende zu erreichen "und Diktatoren zu entwaffnen", müssten öffentliche und private Investitionen in erneuerbare Energien und kleine, dezentrale Erzeugungsanlagen gelenkt werden, forderte Romanko.

Die Potenziale für erneuerbare Energien sind nach Angaben von Experten in der Ukraine groß. Eine Untersuchung der TU Lapeenranta in Finnland zeigte 2017, dass bereits 2035 rund 90 Prozent des Strombedarfs mit Wind, Sonne, Wasser, Biomasse und Geothermie gedeckt werden könnten.

In diesem Szenario nahm das Forschungsteam an, dass die AKW sukzessive abgeschaltet werden, der letzte AKW-Block aber noch bis in die zweite Hälfte der 2040er Jahre am Netz bleibt. Das gebe dem Staatsunternehmen Energoatom die Zeit, entsprechende Rücklagen für die spätere Demontage der Reaktoren und die Deponierung der radioaktiven Abfälle zu bilden.

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