Klimareporter°: Herr Tu, ein Bericht von Agora Energy China und Agora Energiewende zeigt erstmals einen Rückgang der chinesischen CO2-Emissionen, der direkt auf den Ausbau erneuerbarer Energien zurückgeht. Was bedeutet das?
Kevin Tu: Wenn wir uns die Emissionsentwicklung in China ansehen, dann beobachten wir vor allem eine deutliche Verlangsamung des Anstiegs.
Nach unseren Berechnungen stiegen die CO2-Emissionen aus der Verbrennung von Kohle, Öl und Gas sowie aus industriellen Prozessen im Jahr 2023 noch um 4,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. 2024 lag das Plus dagegen nur noch bei 0,7 Prozent.
Im ersten Quartal dieses Jahres sind die CO2-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energieträger sogar um 1,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gesunken. Das ist der erste Rückgang dieser Art in der jüngeren chinesischen Geschichte – und er steht in direktem Zusammenhang mit dem massiven Ausbau erneuerbarer Energien, allen voran Wind- und Solarenergie, auf Rekordniveau.
In seinem aktualisierten Klimaschutzplan, dem sogenannten NDC, der im September vorgestellt wurde, verpflichtet sich China zu einer Reduktion der Treibhausgasemissionen bis 2035 um sieben bis zehn Prozent gegenüber dem Emissionshöchststand. Diese Ankündigung markiert eine Abkehr von den bisherigen Zielformulierungen, die auf die Reduzierung der Energieintensität ausgerichtet waren, hin zu einem Rahmen absoluter Emissionsminderung.
Auch wenn dieses Ziel eher moderat im Vergleich zu den Minderungsschritten für einen 1,5-Grad-Pfad ist, formalisiert es das in den jüngsten Daten schon erkennbare Emissionsplateau. Mit einer entschlossenen Politik und wirksamen Maßnahmen könnte es als Ausgangsbasis dienen, um die Emissionsreduktion zu beschleunigen. Das würde in künftigen Fünfjahresplänen mehr Ambition ermöglichen – durch Reformen im Stromsektor, die Transformation der Industrie und den fortgesetzten Ausbau der Erneuerbaren.
Welche Sektoren tragen dabei bei, den Anstieg der Emissionen zu bremsen?
An erster Stelle steht der Ausbau der erneuerbaren Energien. Allein im vergangenen Jahr hat China 277 Gigawatt Solar- und 79 Gigawatt Windkraftleistung neu installiert. Damit hat das Land seine Ausbauziele für die Erneuerbaren sechs Jahre früher erreicht als geplant.
Der Energiesektor ist also der zentrale Treiber der Verlangsamung. Aber der Wandel braucht mehr als nur neue Kapazitäten: Strommarktreformen und mehr Flexibilität im Netz sind dringend nötig, um Versorgungssicherheit und Effizienz zu gewährleisten.
Auch die Industrie spielt eine wichtige Rolle. 2023 sank die Energieintensität der Industrie um 3,5 Prozent – das entspricht einer Einsparung von rund 130 Millionen Tonnen CO2. Möglich wurde das durch konsequente Elektrifizierung, Effizienzsteigerungen und Pilotprojekte etwa im Bereich grüner Wasserstoff.
Mittlerweile liegt Chinas Elektrifizierungsgrad – also der Anteil des Stroms am Endenergieverbrauch – bei knapp 30 Prozent. Das ist höher als der OECD-Durchschnitt und mit Blick auf die historische Entwicklung eine beachtliche Leistung. Einen zusätzlichen Beitrag leistet der Verkehrssektor: China ist heute der größte Markt für Elektroautos weltweit.
Diese Dynamiken untermauern die neuen NDC-Verpflichtungen für 2035 unmittelbar – besonders das Ziel, den Anteil nicht-fossiler Energie am Gesamtverbrauch auf mehr als 30 Prozent zu erhöhen und zu gewährleisten, dass "new energy vehicles", also Fahrzeuge mit alternativen Antrieben, die Mehrheit der Neuwagenverkäufe ausmachen.
Im Bericht heißt es, dass 2024 neue Kohlekraftwerke mit einer Leistung von 95 Gigawatt genehmigt wurden. Vier Provinzen spielen dabei eine zentrale Rolle. Was bedeutet diese Widersprüchlichkeit in Chinas Energiestrategie?
China ist der größte Energieverbraucher und Emittent weltweit – Widersprüche sind da kaum zu vermeiden. Einerseits ist das Land führend beim Ausbau erneuerbarer Energien und bei der Herstellung klimaneutraler Technologien. Andererseits baut China weiterhin neue Kohlekraftwerke: 94,5 Gigawatt im vergangenen Jahr, so viel wie seit 2015 nicht mehr.
Kevin Tu
ist Geschäftsführer von Agora Energy China in Peking und berät Agora Energiewende in Berlin zu Projekten mit Fokus auf Chinas Energie- und Klimapolitik. Zudem ist er Stipendiat am Center on Global Energy Policy der Columbia University in New York, Lehrbeauftragter an der School of Environment der Beijing Normal University und Non-Resident Fellow am Institut français des relations internationales (Ifri). Zuvor leitete er Chinas Energie- und Klimaprogramme bei der Internationalen Energieagentur IEA und der US-Denkfabrik Carnegie Endowment for International Peace. Er studierte Chemieingenieurwesen und Maschinenbau sowie Ressourcen- und Umweltmanagement und hat Managementerfahrung in der Energieberatung und der Öl- und Gasindustrie. Kevin Tu forscht zur gesamten Bandbreite an Energiethemen, seine Schwerpunkte sind die Beziehungen EU–China sowie USA–China und die Auswirkungen auf Chinas Energie- und Klimapolitik.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Kohle ist im Inland reichlich vorhanden, und das chinesische Stromsystem basiert traditionell auf großen, zentralisierten Kraftwerken und Übertragungsleitungen. So lassen sich relativ einfach Kohlekraftwerke im Landesinneren bauen und der dort produzierte Strom in die Verbrauchszentren an der Küste transportieren. Dieses Modell ist jedoch veraltet und ungeeignet für die Zukunft, in der erneuerbare Energien eine immer größere Rolle spielen.
China hat bislang zu wenig in regionale Verteilnetze investiert, und institutionelle Reformen, die nötig wären, um mehr dezentral erzeugten grünen Strom aufzunehmen, wurden noch nicht umgesetzt. Großprojekte bei Solar- und Windenergie boomen, doch etwa beim Ausbau der Dach-Photovoltaik liegt China deutlich hinter Ländern wie Deutschland zurück. Diese strukturellen Probleme, verstärkt durch Sorgen um die Energiesicherheit, treiben den weiteren Kohleausbau an.
Für die Zukunft ist es entscheidend, keine neuen Baugenehmigungen für Kohlekraftwerke mehr zu erteilen und die Nutzung des bestehenden Kohlekraftwerksparks zu optimieren, um langfristige Lock-in-Effekte zu vermeiden. Ebenso wichtig ist ein gerechter Übergang in den vom Kohleabbau abhängigen Provinzen, um Energiesicherheit und Klimaziele in Einklang zu bringen.
Der neue NDC-Klimaplan signalisiert zudem, dass dieser strukturelle Widerspruch im Laufe der Zeit gelöst werden muss. Denn die neuen Zusagen implizieren, dass die Stromerzeugung aus Kohle deutlich vor 2035 ihren Höchststand erreichen und dann zurückgehen muss.
Das Kapazitätsziel von 3.600 Gigawatt für Wind- und Solarenergie lässt sich nur erreichen, wenn Netzreformen und die Optimierung der Kohleverstromung parallel vorankommen. Diese Prioritäten fest im kommenden Fünfjahresplan zu verankern, ist entscheidend, um die Dynamik zum Erreichen der chinesischen Klimaziele für 2035 aufrechtzuerhalten.
Die Industrie ist in China der größte Verbraucher von Strom und Wärme. Welche politischen Maßnahmen könnten den grünen Umbau hier zusätzlich fördern?
Ob China den Höhepunkt seiner CO2-Emissionen noch vor 2030 erreicht, hängt maßgeblich davon ab, ob es zeitnah gelingt, die Emissionen in der Schwerindustrie zu senken. Die Entwicklung in diesem Sektor ist entscheidend dafür, ob China den Emissionshöhepunkt vor 2030 überschreiten wird. Der Schlüssel liegt in der Elektrifizierung.
Diese lässt sich in zwei Bereiche unterteilen: die direkte und die indirekte Elektrifizierung. Direkt bedeutet den Einsatz von Technologien wie Wärmepumpen oder Elektrokesseln in industriellen Prozessen. Indirekt umfasst erneuerbaren Wasserstoff und dessen Derivate wie grünes Ammoniak oder grünes Methanol, die zur Dekarbonisierung von Prozessen in der Schwerindustrie beitragen können.
Damit die aktuelle Dynamik anhält, muss die Industrieproduktion enger mit der Erzeugung erneuerbarer Energien verzahnt werden. Nötig sind politische Maßnahmen, die die Elektrifizierung vorantreiben, die Kreislaufwirtschaft fördern und die Nachfrage nach grünen Produkten steigern – flankiert durch einen CO2-Preis.
Chinas Klima- und Umweltpolitik
China ist der größte Treibhausgasemittent der Welt, treibt aber auch den Ausbau der erneuerbaren Energien am schnellsten voran. Die Volksrepublik ist bei vielen "grünen" Technologien führend – und hat eine Schlüsselrolle bei der Weiterverarbeitung von Rohstoffen wie Kobalt und Lithium. Während China in der internationalen Klimapolitik eine prominente Position innehat, kommt es im Land immer wieder zu Protesten gegen Umweltverschmutzung. Die Serie wirft ein Auge auf Akteure und Debatten, Gesetze und Industrien in China.
Die Ausweitung des nationalen Emissionshandels auf alle emissionsintensiven Sektoren, wie im NDC dargelegt, könnte zu einem zentralen Politikinstrument werden. Hierdurch ließe sich eine tiefgreifende Dekarbonisierung mithilfe von Investitionen in Elektrifizierung, wasserstoffbasierte industrielle Prozesse und andere CO2-arme Innovationen erzielen, die für die chinesischen Klimaziele bis 2035 unerlässlich sind.
Darüber hinaus sollte China auch seine Wirtschaftsstruktur überdenken. Noch immer hängt das Land stark von der verarbeitenden Industrie und der Schwerindustrie ab. Ein stärkerer Fokus auf Dienstleistungen würde Emissionsminderungen erheblich erleichtern.
Besondere Aufmerksamkeit verdient zudem Chinas kohlechemische Industrie – deren Ausmaß inzwischen problematisch ist. Die traditionelle Kohlechemie einschließlich der Koksherstellung und der Herstellung von Ammoniak aus Kohle sowie die moderne Kohlechemie – darunter Kohle-zu-Öl, Kohle-zu-Gas, Kohle-zu-Olefinen und Kohle-zu-Ethylenglykol – machen inzwischen fast ein Viertel des gesamten chinesischen Kohleverbrauchs aus.
In den vergangenen Jahren wurde die Kapazität der modernen kohlechemischen Industrie deutlich ausgebaut. Es ist der einzige große Sektor, in dem noch ein erheblicher Ausbau von Kohlekapazitäten und damit ein Emissionsanstieg drohen. Um auf einem emissionsarmen Pfad zu bleiben, ist es dringend notwendig, das Wachstum dieser Branche zu begrenzen. Dafür sollten chinesische Entscheidungsträger diesem Thema im kommenden Fünfjahresplan mehr Aufmerksamkeit widmen.
Wie sehen Sie die Dynamik zwischen der Zentralregierung und den Provinzregierungen? Oft konkurrieren die Provinzen um wirtschaftliches Wachstum, gleichzeitig stehen sie unter Druck, Klimapolitik umzusetzen. Wie beeinflusst das die chinesische Energiewende?
Wie in vielen Teilen der Welt sind auch in China die Beziehungen zwischen zentraler und regionaler Ebene komplex. Als Präsident Xi die doppelten Klimaziele ausrief – den Emissionshöhepunkt vor 2030 und Klimaneutralität bis 2060 zu erreichen – folgte die Zentralregierung mit dem übergreifenden "1+N"-Politikrahmen. Die "1" steht dabei für den langfristigen Fahrplan zur Klimaneutralität, das "N" für die konkreten Pläne, damit die CO2-Emissionen vor 2030 ihren Höhepunkt erreichen. Diese Ziele wurden anschließend auf die Provinzebene heruntergebrochen, die den Großteil der Projektgenehmigungen kontrolliert.
Doch hier treffen unterschiedliche Interessen aufeinander, die sorgfältig austariert werden müssen, damit die doppelten Klimaziele erreichbar sind. Während die Zentralregierung Klimaschutz und Nachhaltigkeit betont, werden Provinzfunktionäre in erster Linie anhand von Wirtschaftswachstum bewertet. Gleichzeitig ist die Zentralregierung in der Lage, landesweit Ressourcen effizient zu mobilisieren – etwa indem wohlhabendere Küstenprovinzen finanzielle Mittel für kohleabhängige Regionen bereitstellen, um den Übergang abzufedern.
Wichtig wäre allerdings auch, die Leistungsbewertung für lokale Funktionäre zu reformieren. Sie sollten nicht nur an kurzfristigem Wachstum gemessen werden, sondern auch daran, ob sie es schaffen, die wirtschaftliche Entwicklung mit den langfristigen Klimazielen in Einklang zu bringen.
