Klimareporter°: Herr Li, Sie forschen zu "umweltpolitischem Autoritarismus", oder anders formuliert autoritären Formen der Umweltpolitik. Sie betonen jedoch, dass der Fokus eher auf dem Autoritarismus liegt als auf umweltschonender Gesetzgebung. Können Sie ein Beispiel dafür geben?

Li Yifei: In China laufen gerade mehrere Modellprojekte, die darauf abzielen, den individuellen CO2-Fußabdruck zu messen. China verfügt über eine außergewöhnliche Big-Data-Infrastruktur. Die gab es zwar bereits vor der Pandemie – etwa für Zahlungen, Verkehr und Telekommunikation – aber die Null-Covid-Politik hat die Anwendungspotenziale stark erweitert, weil all diese und andere Daten als Quellen für die Kontaktverfolgung dienten.

 

Jetzt versuchen zum Beispiel Provinz- und Stadtregierungen in China, diese Big-Data-Infrastruktur umzuwidmen: Sie wollen individuelle CO2-Konten erstellen. Die Daten über die Mobilität von Menschen, ihre Einkäufe, ihren Energieverbrauch und eine Vielzahl anderer Dinge werden ja ohnehin gesammelt. Gleichzeitig hat alles, was wir tun, einen CO2-Fußabdruck.

Doch wenn der Staat über so ein detailliertes Wissen über unsere CO2-Emissionen verfügt, bedeutet das gleichzeitig, dass er ziemlich viel über unsere täglichen Aktivitäten weiß. Früher war es die öffentliche Gesundheit – auch schon Anfang der 2000er Jahre im Zuge der Sars-Pandemie –, jetzt ist es die Klimakrise: Nationale Ziele wie das Erreichen von CO2-Neutralität werden dafür genutzt, um Datenschutz-Bedenken beiseite zu schieben.

In China ist es üblich, politische Experimente auf lokaler Ebene durchzuführen, die Resultate miteinander zu vergleichen und daraus schließlich potenziell gesamtstaatliche Modelle, Standards und Richtlinien zu entwickeln. Ist das hier auch der Fall?

Ja, Städte wie Shanghai, Shenzhen, Guangzhou, Tianjin, Chongqing und Wuhan führen derzeit Pilotprojekte durch. Aktuell werden verschiedene Modelle und Methoden ausprobiert. In einigen Städten ist das Programm verpflichtend und an elektronische Zahlungen, etwa mit Alipay und Wechat, gebunden. Dann kommt man nur drum herum, wenn man mit Bargeld zahlt, was immer schwieriger wird, wenn auch je nach Produkt und Service nicht unmöglich ist.

Porträtaufnahme von Li Yifei.
Bild: privat

Li Yifei

ist Assistant Professor für Umwelt­studien an der Universität NYU Shanghai. Seine Forschung befasst sich damit, wie verschiedene soziologische Gruppen auf Chinas staatliche Umwelt­politik reagieren. Mit Judith Shapiro schrieb er das 2020 erschienene Buch "China Goes Green" über autoritären Umwelt­schutz.

In Shanghai, wo ich wohne, wurden mehrere Viertel ausgewählt, in denen die Bewohner:innen gewissermaßen miteinander im Wettbewerb stehen: Sie können vergleichen, wie sich ihr CO2-Fußabdruck im Laufe der Zeit ändert, und wer die geringsten Emissionen hat, gewinnt einen Preis.

Es wird also aktiv experimentiert, und diese Experimente werden nach und nach ausgeweitet. Irgendwann soll es eine stadtweite Initiative geben. Auf Chinesisch heißen diese Programme "Tanpuhui", übersetzt heißt das so viel wie "CO2-Inklusion". Die einzelnen Bürger:innen werden also einbezogen, wenn es darum geht, die nationalen CO2-Emissionen zu reduzieren.

Die chinesische Regierung arbeitet intensiv daran, das Erfassungs- und Bilanzierungssystem für CO2-Emissionen zu verbessern. Haben die Tanpuhui-Programme ein ähnliches Ziel?

Ja, das gehört alles in denselben Topf: Es geht darum, eine robuste Methodik zu entwickeln, um CO2-Emissionen in verschiedenen Szenarien zu messen. Der Begriff der "CO2-Methodik" taucht in all den Diskussionen immer wieder auf.

Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es nicht die eine offizielle Methode gibt, um CO2 zu messen, sondern verschiedene Herangehensweisen. Außerdem sind derartige CO2-Messungen auf individueller Ebene bisher unbekannt. In den meisten Staaten wird der CO2-Fußabdruck etwa auf Unternehmensebene berechnet. Doch China hat die außergewöhnliche Kapazität, entsprechende Maßnahmen zu entwickeln und durchzuführen.

Und das, was China tut, hat globale Auswirkungen. Ich habe in Abu Dhabi gelebt, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, einem Land, das zu China aufschaut und die gleichen Technologien nutzen möchte, sodass die Regierung ein ähnliches Überwachungs- und Kontrollprogramm durchführen kann. Andere Staaten schauen ebenfalls aktiv auf China.

2019 hat die Stadt Shanghai auch Recycling für Haushalte eingeführt – in einem Modellprojekt, das landesweit für Aufmerksamkeit, wenn nicht gar Belustigung sorgte, besonders auf Social Media. Auch durch das Recyclingprogramm wurde, wenn auch weniger drastisch, in die Privatsphäre der Bürger:innen eingegriffen. Wie unterscheidet sich das von den Tanpuhui-Projekten?

Faszinierend in beiden Fällen ist das Ausmaß der autoritären Übergriffe, die unter dem Vorwand von Umweltprogrammen stattfinden. Der Staat greift aus umweltpolitischen Gründen in sehr private Verhaltensweisen ein. Das Recyclingprogramm stützt sich dabei jedoch fast ausschließlich auf die Kontrolle durch Menschen.

In den Wohnvierteln Shanghais gibt es unzählige Rentner:innen, die neben den Mülltonnen stehen und kontrollieren, ob richtig recycelt wurde: Mit einem Stock können sie die Müllsäcke kontrollieren, bevor sie in den Container geworfen werden dürfen. Ist der Müll nicht ordnungsgemäß getrennt, wird man verwarnt. Die Stadt Shanghai hat auch mit Geldstrafen gedroht, aber ich glaube, das wurde nie umgesetzt.

Wie dem auch sei: Freiwillige übernehmen unbezahlt den großen Teil der Kontrollarbeit, einfach weil sie Lust darauf haben, den Müll von Leuten zu durchsuchen. Deshalb sind die Container auch nur morgens von 7 bis 9 Uhr und am späten Nachmittag von 17 bis 19 Uhr geöffnet – was übrigens ziemlich nervig ist, wenn man zu diesen Zeiten nicht da sein kann. Nun stellen viele ihren Müll nachts neben die verschlossenen Mülltonnen, im Schutz der Dunkelheit. Das Modell wird den Leuten aufgezwungen und ist ein Eingriff in die Privatsphäre, weshalb sich viele online darüber lustig machen – und sich zugleich beschweren.

Doch wenn man es mit einem echten Menschen zu tun hat, einem Nachbarn aus der gleichen Wohngegend, kann man oft noch über Dinge verhandeln. Das wird deutlich schwieriger, wenn es um die digitale CO2-Messung geht. Einem Algorithmus kann man seine Bedenken nicht erklären oder um eine Ausnahme bitten.

Ich bin mir sicher, dass es alle möglichen Memes und Witze über die Tanpuhui-Programme gibt und geben wird, aber die Möglichkeiten des Widerstands werden schrumpfen, wenn Big Data so weit vordringt. Außerdem wissen wir nicht, was der Staat mit all diesen Daten tun wird, sobald sie in seinem Besitz sind.

Mit Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit intervenieren Sie in Diskurse, in denen eine bestimmte Form des Autoritarismus auch als positiv angesehen wird, um der Klima- und Biodiversitätskrise zu begegnen.

Ich verstehe natürlich, dass viele Menschen in liberalen Demokratien frustriert sind. Aber wenn man englischsprachige Literatur liest, die Chinas autoritäre Kapazitäten, Umweltpolitik zu machen, bewundert, ist das fast ausschließlich spekulativ. Meist geht es um das Verbot von Plastiktüten oder den Ausbau erneuerbarer Energien. Im Grunde konzentrieren sich solche Stimmen auf ein paar ausgewählte Beispiele und spekulieren dann, was China mit dieser autoritären Macht tut oder tun könnte.

In einem relativ vollen U-Bahn-Wagen schauen alle auf ihr Smartphone.
Unterwegs in der Pekinger U‑Bahn: Welche Daten werden gespeichert? (Bild: Rosana Scapinello/​Shutterstock)

Das soll nicht heißen, dass Autoritarismus im Kampf gegen den Klimawandel nutzlos ist. Früher gab es für alle, die in die Kantine gegangen sind, um ihr Mittagessen zu holen, eine Metallbox. Die hat man von zuhause mitgebracht und auch wieder mitgenommen. Jeder hatte genau die gleiche Metallbox. Dieses sozialistische Modell der Kollektivität kann sich, verbunden mit einem gewissen Maß an autoritärem Vorgehen, durchaus positiv auf die Umwelt auswirken.

In Deutschland gibt es ja auch die Mehrwegbecher für den Coffee to go. In China könnte man einfach ein landesweites Modell ausarbeiten, diesen Becher also standardisieren, und dann allen Getränkehändlern und Coffee-to-go-Shops vorschreiben, dass alle Kund:innen genau diesen Becher mitbringen müssen.

Aber diese Art von autoritärer Umweltpolitik setzt China nicht um. Bevorzugt werden Interventionen, die dem Staat mehr Macht verleihen. Der Mehrwegbecher würde das nicht tun.

Während der Staat durch diese Formen der autoritären Umweltpolitik immer stärker wird, werden nichtstaatliche Akteure zunehmend zur Seite geschoben. Wie erleben Sie diese Entwicklungen?

Der Staat spielt eine wichtige Rolle im Umweltschutz. Aber er darf dabei nicht übermächtig werden, sondern es braucht eine Führung, die die Beteiligung von nichtstaatlichen Akteuren akzeptiert.

Früher war das der Fall. Zum Beispiel ist Chinas Importverbot für Abfälle das Resultat jahrzehntelanger Arbeit, zunächst vor allem von transnationalen Nichtregierungsorganisationen wie dem Basel Action Network, chinesischen Umweltorganisationen, aber auch Wissenschaftler:innen und Journalist:innen. Lokale und nationale Umweltbehörden haben mit ihnen zusammengearbeitet.

Inzwischen werden inländische Umwelt-NGOs systematisch an den Rand gedrängt. Auch ausländische Akteure wie die staatliche deutsche Entwicklungsorganisation GIZ, sogar die Weltbank, spielten früher eine wichtige Rolle bei Themen wie Energieeffizienz. Noch vor nicht allzu langer Zeit gab es ziemlich robuste Prozesse für Beratungen und Konsultationen mit mehreren Interessengruppen.

China wird autoritärer: Es gibt eine systematische Sabotage der Rechenschafts- und Haftungspflicht, der Accountability. Gleichzeitig begegnet der Staat vielen Herausforderungen quasi mit dem Bulldozer.

In Fragen der Umweltpolitik wird das mit der Klima- und Biodiversitätskrise begründet: Die Bedrohung ist zu groß und die Zeit zu knapp. Der Staat und die Top-Wissenschaftler an der CASS, der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, wissen am besten Bescheid. Hören Sie einfach auf uns!

Dabei handelt es sich um ein kohärentes Narrativ. Hat diese Logik erst einmal eine solche Selbstverständlichkeit angenommen, ist es schwer, wieder andere Wege einzuschlagen.

 

Chinas Klima- und Umweltpolitik

China ist der größte Treibhausgasemittent der Welt, treibt aber auch den Ausbau der erneuerbaren Energien am schnellsten voran. Die Volksrepublik ist bei vielen "grünen" Technologien führend – und hat eine Schlüsselrolle bei der Weiterverarbeitung von Rohstoffen wie Kobalt und Lithium. Während China in der internationalen Klimapolitik eine prominente Position innehat, kommt es im Land immer wieder zu Protesten gegen Umweltverschmutzung. Die Serie wirft ein Auge auf Akteure und Debatten, Gesetze und Industrien in China.