Seit Anfang 2022 verfolge ich beruflich als Ethnologin, was rund um die geplante Erdgasförderung im niederländisch-deutschen Grenzgebiet der Nordsee passiert. Ich sammle Daten, führe Interviews, treffe mich mit Gegnern, nehme beobachtend an ihren Aktionen teil. Ich halte fest, wie Meereswissenschaft und Politik auf die Forderungen und Klagen reagieren, das Erdgasförderprojekt "Gateway to the Ems" (Gems) nicht zuzulassen.

Die Erschließung neuer Erdgas- und Erdölfelder in der Nordsee für die Energieproduktion halte ich persönlich für falsch. Angesichts der Klimaziele müssen bestehende Gasförderungen so bald wie möglich heruntergefahren und regenerative Energien entsprechend ausgebaut werden. Daran ist nicht zu rütteln.

Doch liegt der Fokus der Entrüstung schon auf den wesentlichen Themen? Ich möchte dazu zwei Aspekte ansprechen: souveräne Meerespolitik und mangelnder Meeresschutz in Deutschland.

"Hopp, hopp, hopp – One-Dyas stopp!"

Mobilisierung für den Umweltschutz braucht Narrative. Das Narrativ von einem ausländischen Gaskonzern, der rücksichtslos wertvolle Steinriffe in der Nordsee zerstört, die Lebenswelt schöner Inseln aufs Spiel setzt und sich auch noch mit der angeblich klimaneutralen Produktion fossiler Energieträger brüstet, lässt nicht nur bei Umweltschützer:innen die Emotionen hochkochen.

Porträtaufnahme von Irit Ittner.
Bild: KDM

Irit Ittner

ist wissen­schaftliche Mit­arbeiterin am German Institute of Development and Sustainability (Idos) in Bonn. Die promovierte Ethnologin forscht im Projekt "Create" der Deutschen Allianz für Meeresforschung zu Fragen der transnationalen Meeres-Governance. Konkret geht es um Genehmigungs­verfahren, politische Dynamiken und den Widerstand gegen ein Gas­förder­projekt an der deutsch-nieder­ländischen Grenze vor den Inseln Borkum und Schier­monnik­oog.

Die wirtschaftlichen Interessen des niederländischen Explorations-Unternehmens One-Dyas stehen anscheinend einer schützenswerten Meeresumwelt gegenüber, Klimaschutz wird mit Füßen getreten.

"Hopp, hopp, hopp – One-Dyas stopp!" Die Forderung der Klimaschützer:innen ist eingängig. Aber liegen sie damit richtig?

Genau besehen setzt One-Dyas eins zu eins niederländische Politik um. Die Niederlande haben 2021 den beschleunigten Ausbau der marinen Gasförderung zum überragenden öffentlichen Interesse erklärt.

Die entsprechenden Produktionsszenarien zielen nicht auf einen Ausstieg, sondern – auf geringerem Niveau – auf ein "Weiter so" in den nächsten Jahrzehnten. Sich erschöpfende Erdgasvorkommen in der Nordsee sollen in den kommenden Jahren durch die Erschließung bekannter und vermuteter Gasfelder kompensiert werden – soweit dies der Rahmen des Pariser Klimaabkommens zulässt. Doch wer prüft Letzteres und würde dann auch Sanktionen verhängen?

Gasunternehmen setzt eins zu eins niederländische Politik um

Investitionen in marine Gasinfrastruktur erhalten vom niederländischen Staat einen Steuervorteil von 40 Prozent, auch um Infrastruktur auf dem Meer für zukünftige Nutzungen vorzuhalten, etwa zur Wasserstoffproduktion oder für Carbon Capture and Storage (CCS).

One-Dyas tut genau das, was die niederländische Regierung, speziell das Wirtschafts- und Klimaministerium, als Ziel ausgegeben hat. Das erklärt sowohl die schnelle Genehmigung als auch den Schulterschluss von One-Dyas und dem Ministerium in dem Rechtsstreit, den Umweltverbände, Initiativen und Kommunen initiierten, nachdem dasselbe Ministerium im Juli 2022 die Baugenehmigung erteilt hatte.

Insgesamt präsentiert sich die niederländische Politik in der Frage der marinen Gasförderung transparent, kohärent und zielgerichtet. Es geht darum, einen bestehenden Produktionsstandort in der Nordsee mit etwa 150 Erdgas- und Erdölplattformen sowie die nationale Gasversorgung zu sichern, ohne die Umweltkosten der Gasproduktion ins Ausland auszulagern.

Effektiver Widerstand müsste sich, wenn überhaupt, gegen die Meeresnutzungspolitik beziehungsweise die Ressourcenstrategie der Niederlande richten, nicht gegen ein Unternehmen, das diese Politik kohärent umsetzt. Doch so ein Widerstand von deutscher Seite wäre wiederum nicht angemessen.

Hoheitsgebiete und gesellschaftlicher Konsens

Seit 1964, mit der Genfer Seerechtskonvention zum Festlandsockel, haben alle Staaten, die einen Festlandsockel nachweisen konnten, die Hoheit über ihre sogenannte Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) erhalten.

Welche Ressourcen innerhalb der AWZ und den nationalen Küstengewässern, der Zwölf-Seemeilen-Zone, durch wen abgebaut oder genutzt werden dürfen, entscheiden die Staaten selbst.

In Deutschland achtet man auf die umweltgerechte Förderung von Erdgas. Jedenfalls, wenn es um die eigene Umwelt geht. (Bild: Michał Bednarek/​Shutterstock)

Auch marine Raumordnungspläne, politische Strategien und Genehmigungen sind Sache souveräner Staaten. Es wäre also Aufgabe der niederländischen Wähler:innen, sich für einen Strategie- und Politikwechsel in der niederländischen Nordsee starkzumachen.

Auch in den Niederlanden wächst der Widerstand gegen neue Gasförderprojekte in der Nordsee, besonders wenn Beeinträchtigungen für das Wattenmeer zu befürchten sind.

Doch nach den schlechten Erfahrungen bei der Erdgasförderung an Land mit den Schäden durch die Gasbeben von Groningen und das erst durch Proteste herbeigeführte Fracking-Verbot sind sehr viele Niederländer:innen erleichtert, dass sich die Gasproduktion weiter in die Nordsee verlagert.

Das politische Vorgehen kann man durchaus ablehnen und mit demokratischen und rechtlichen Mitteln zu ändern versuchen. Man sollte sich aber darüber im Klaren sein, dass man damit gegen einen politischen Kompromiss vorgeht, der in einem rechtsstaatlichen Rahmen und mithilfe von Beteiligungsverfahren gefunden wurde. Das macht es sehr schwer.

Deutschland: Bewährte Externalisierung und mangelnder Meeresschutz

Der Ausbau mariner Gasförderung in den Niederlanden geht auf einen Kompromiss von 2007 zurück, nachdem in unserem Nachbarland jahrzehntelang über Gasförderung und grundberührende Nordseefischerei gestritten wurde. In dem Streit und dem späteren Dialog engagierten sich sowohl Wissenschaft und Politik als auch zivilgesellschaftliche Akteure wie Umweltschutzorganisationen sowie die Industrie.

In Deutschland hat eine derart weitreichende gesellschaftliche Debatte zu den Themen Gasversorgung und Gasförderung – ob an Land oder auf dem Meer – bislang nicht stattgefunden. Hier setzte man seit den 1970er Jahren vor allem auf Importe von Nordseegas, auch aus den Niederlanden, und später zusätzlich auf Gasimporte aus Russland.

Aktuell deckt Deutschland nur fünf Prozent seines Erdgasbedarfs aus eigener Förderung – aus 69 Gasförderstatten an Land. Im Meer gibt es keine deutsche Förderstätte mehr.

Ausstellung

"Die Riffe vor Borkum" heißt eine derzeit laufende Ausstellung im Nordsee-Aquarium Borkum. Sie stellt die artenreichen Seegebiete "Borkum Riff" und "Borkum Riffgrund" sowie die Sandbänke und lokalen Steinriffe der Nordsee vor und erklärt, wie diese Gebiete verwaltet und geschützt werden. Die Ausstellung blickt auch auf die dort geplante Gasförderung und erläutert den laufenden Rechtsstreit in den Niederlanden, an dem die Stadt Borkum beteiligt ist.

Die bewährte deutsche Strategie der Externalisierung rief erst dann breiten Widerstand hervor, als Gasimporte in der Form von LNG-Tankern sichtbarer wurden und man sich Gedanken um Umweltgerechtigkeit und Herkunftsländer machte.

In Deutschland erhielt der Bund die Hoheit über die Ausschließliche Wirtschaftszone. Die einzelnen Küsten-Bundesländer tragen jedoch die politische Verantwortung für ihre Küstengewässer.

Die ökologisch wertvollen Sandbänke und Riffe im Borkumer Riffgrund befinden sich auch in den Niederlanden, wo sie Borkumse Stenen genannt werden. Vom gesamten Habitat-Komplex stellte Deutschland etwa die Hälfte unter Schutz, also etwa 625 Quadratkilometer.

Deutschland beschränkte das Naturschutzgebiet Borkum Riffgrund aus verwaltungstechnischen Gründen auf die AWZ, wo das Bundesamt für Naturschutz das Management für den Bund ausführt. Ein kleineres Gebiet in niedersächsischen Küstengewässern blieb ungeschützt. Dort eben möchte One-Dyas nach Erdgas bohren.

Bundesamt rechnete schon 2020 mit künftiger Gasförderung

Die deutsche Haltung zur marinen Gas- und Ölförderung ist ambivalent. Die Ampel-Regierung unter Olaf Scholz erteilte im Koalitionsvertrag neuen Gas- und Ölförderprojekten in der Nordsee eine Absage.

Doch im Fall von Gems entscheidet das Bundesland Niedersachsen. Die Landesregierung zeigte sich in der Frage zunächst uneinig und unentschlossen. Das niedersächsische Wirtschaftsministerium genehmigte jetzt das Projekt, weil das Planfeststellungsverfahren am Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie keine Einwände gegen Richtbohrungen auf deutscher Seite ergab.

Der marine Raumordnungsplan von 2021 legt für Borkum Riffgrund fest, dass das Gebiet vorrangig dem Naturschutz dienen soll. Doch etwa die Hälfte des Naturschutzgebiets bleibt der Aufsuchung und Förderung von Erdöl und Erdgas vorbehalten, weil bereits existierende Konzessionen berücksichtigt werden mussten. Auch dort befinden sich Gasfelder, die One-Dyas in zukünftigen Projekten erschließen möchte. Das hat das Unternehmen 2019 bei Beantragung des Gems-Projekts klar kommuniziert.

Das Bundesamt für Naturschutz rechnete schon 2020 bei der Erstellung des Managementplans für das Naturschutzgebiet Borkum Riffgrund mit zukünftigen Gasförderungprojekten. Diese werden zwar durch die entsprechende Schutzverordnung untersagt, sind in Ausnahmefällen jedoch genehmigungsfähig.

Eine ähnliche Regelung besteht für das Naturschutzgebiet Borkum Riff in niedersächsischen Küstengewässern, in das sich das Gems-Projekt ausdehnen soll. Die Klagen und Proteste gegen Gems richten sich verständlicherweise auf das Projektgebiet in den Küstengewässern und den Schutz der ungeschützten Steinriffe, die dort vorhanden sind.

 

Fazit: Aus Klimaschutzgründen sollten keine neuen Gasfelder in der Nordsee erschlossen werden. Aus der Meeresschutz-Perspektive stellen sich vor allem zwei Fragen, die weit über das Gems-Projekt hinaus von Bedeutung sind.

Erstens: Wie gehen wir in Zeiten von zunehmender Flächenkonkurrenz und immer mehr grenzüberschreitenden Industrieprojekten in unseren Meeren politisch klüger mit den Prioritäten unserer Nachbarländer um, wenn sie unseren Interessen oder Nutzungsstrategien widersprechen?

Zweitens: Wie stellen deutsche Behörden sicher, dass Steinriffe und andere ökologisch wertvolle Lebensräume in vorhandenen Meeresschutzgebieten wirklich effektiv vor negativen Folgen der Industrialisierung geschützt werden, indem Ausnahmeregelungen für die Aufsuchung und Förderung von Kohlenwasserstoffen hier nicht greifen?