
Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.
Klimareporter°: Herr Graßl, Deutschland hat sich verpflichtet, in den nächsten Jahren bis zu fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung und Sicherheit aufzuwenden. Das kann Ausgaben von mehr als 200 Milliarden Euro jährlich bedeuten.
Zugleich kürzt die Bundesregierung im aktuellen Haushalt bei der internationalen Klimafinanzierung. Dafür sollen nicht, wie bisher zugesagt, jährlich sechs Milliarden Euro zur Verfügung stehen, sondern nur 5,1 bis 5,4 Milliarden. Ist Verteidigung so viel wichtiger als die Begrenzung der globalen Klimakrise?
Hartmut Graßl: Deutschland – also das Deutsche Reich, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik – gehörte seit dem späten 19. Jahrhundert bis etwa 1989 zu den weltweiten Hauptemittenten von Treibhausgasen in die Atmosphäre.
Auch heute – nach bereits kräftiger Reduktion – emittiert ein Bewohner Deutschlands im Mittel immer noch etwa so viel wie ein Bewohner der Volksrepublik China. Unser Beitrag zur globalen Erwärmung und damit zu den Klimaänderungen liegt weit über dem Durchschnitt der Bewohner vieler Länder.
Deshalb ist es nur gerecht, wenn Deutschland wie schon bisher im Rahmen des Paris-Abkommens wesentlich zur internationalen Klimafinanzierung beiträgt.
Da Homo sapiens jedoch nicht nur zur Kooperation fähig ist, sondern auch zur Aggression neigt, war aber immer auch in fast jedem Land ein wesentlicher Anteil des Sozialprodukts für das eigene Militär und die zugehörige Infrastruktur notwendig.
Diese seit dem Ende des Kalten Krieges verminderte Wehrhaftigkeit wird jetzt wieder aufgestockt – es wird also nachgerüstet –, weil ein großes, diktatorisch regiertes Fast-Nachbarland mit imperialen Gelüsten ein anderes Fast-Nachbarland, die junge Demokratie Ukraine, vor über drei Jahren überfallen hat.
Der von der Russischen Föderation erwartete Sieg in einem schnellen militärischen Vorstoß mündete in einen Stellungskrieg bei Eroberung eines kleinen Teils des Landes.
Die zusätzliche Rüstung zur Erhöhung der Wehrhaftigkeit angrenzender Länder wird zurzeit durch Aufnahme großer Staatsschulden bei uns in Deutschland und anderen Nato-Ländern finanziert, bei hoffentlich höherer Wehrhaftigkeit.
Da wir in Deutschland außerdem eine neue, unionsgeführte Regierung haben, die dem Klimaschutz weniger zugeneigt ist als ihre Vorgängerin, war es bei der Nähe der Unionsparteien zur fossilen Lobby doch wahrscheinlicher, dass der Klimaschutz wieder abgeschwächt wird. Genau das tritt jetzt ein.
Glücklicherweise gibt es zwei "Randbedingungen", die den Hang der neuen Regierung zu verzögertem Klimaschutz dämpfen: die Europäische Union und die Mithilfe der Grünen bei der Lockerung der Schuldenbremse im Grundgesetz, bei der die Partei eine Stärkung des Klimaschutzes innerhalb der aufgestockten Infrastrukturinvestitionen durchgesetzt hat.
Momentan hält die neue Regierung die erhöhte Finanzierung für die gewünschte unmittelbare Sicherheit für wichtiger als die langfristige Sicherheit der nachkommenden Generationen.
In Bonn endete am Donnerstag die Zwischenkonferenz für den kommenden Weltklimagipfel COP 30. Wirkliche Fortschritte gab es nicht. Stößt der Multilateralismus an seine Grenzen?
Seit 1996 gibt es in Bonn, dem Sitz des UN-Klimasekretariats, Sitzungen der Vorbereitungsgruppen einige Monate vor den Vertragsstaatenkonferenzen, den sogenannten Klimagipfeln – in diesem Jahr die COP 30 in Belém in Brasilien. Wie üblich sind diese Konferenzen kaum mehr als eine Arena zur globalen Stimmungsprüfung für den internationalen Klimaschutz. Konkrete Beschlussvorschläge für die COP entstehen dabei selten.
So hat auch die am Donnerstag in Bonn beendete 62. Sitzung der beiden beratenden Nebenorgane SBSTA und SBI keine wirklichen Fortschritte erzielt, wie Klimareporter° berichtete.
Denn einige Entwicklungs- und Schwellenländer wollen erst dann über mehr Klimaschutz reden, wenn die Industriestaaten ihre Zusagen zur Klimafinanzierung konkretisieren, zum Beispiel die auf der COP 29 im vergangenen November in Baku beschlossenen 300 Milliarden US-Dollar pro Jahr – aufgestockt von bisher 100 Milliarden und bis 2035 zu erreichen. Auch die ebenfalls schon in Baku avisierten 1,3 Billionen Dollar pro Jahr sind Teil der Diskussionen.
Diese Beträge mögen hoch erscheinen, sind aber doch noch eher zu gering angesetzt, denkt man an die hohen Kosten für den weltweiten Küstenschutz bei steigendem Meeresspiegel und an die Schäden durch die häufigeren und intensiveren Wetterextreme wegen der Klimaänderungen .
Allein die Schäden durch die Waldbrände bei Los Angeles im Januar dieses Jahres werden auf Dutzende Milliarden bis etwa 250 Milliarden Dollar geschätzt.
Weil viele Entwicklungsländer nur sehr wenig Treibhausgase emittiert und daher kaum zu der globalen Erwärmung beigetragen haben, ist eine Kompensation der Schäden besonders für diese Länder sicher gerechtfertigt.
Dass wir überhaupt über die Kompensation von Verlusten und Schäden durch den Klimawandel reden können, hängt auch mit den Fortschritten in der Klimaforschung zusammen. Seit wenigen Jahren ist es möglich geworden, mithilfe der immer besseren Klimamodelle einzuschätzen, ob und, wenn ja, wie sehr ein einzelnes Extremereignis durch die anthropogenen Klimaänderungen verstärkt wurde.
Es gibt noch eine weitere wichtige Frage für die COP 30 in Brasilien: das Einsammeln der nachgebesserten Klimaschutzziele, der NDCs, von allen Vertragsstaaten. Die Zusagen dürfen dabei nicht hinter die bisherigen Äußerungen zurückfallen.
Von den wenigen fristgerecht bis zum vergangenen Februar eingereichten oder seitdem nachgereichten nationalen Ziele haben nur einige eine Abkehr von den fossilen Brennstoffen signalisiert. Auch die Europäische Union hat ihre neuen Ziele noch nicht eingereicht.
Entscheidend für den Erfolg einer Konferenz sind auch das Gastgeberland und die Leitung der Konferenz. So hat es der französische Außenminister Laurent Fabius 2015 geschafft, den Meilenstein Paris-Abkommen zu setzen.
Deshalb bin ich zuversichtlich für die COP 30 in Belém, weil die gegenwärtige brasilianische Regierung dem Klimaschutz positiv gegenübersteht und Präsident Lula da Silva die Chance wohl ergreifen wird, nach dem Umweltgipfel von Rio 1992, der die Klimarahmenkonvention aus der Taufe hob, in seinem Land wieder eine globale Duftmarke zu setzen.
Drei Klimawissenschaftlerinnen fordern in einem Gastbeitrag für Klimareporter° eine reflexive Wissenschaftskultur, die Emotionen nicht ausblendet, sondern anerkennt und ernst nimmt. Wie sehen Sie diese Problematik?
Die drei Wissenschaftlerinnen, die im Bereich Geografie und nachhaltige Entwicklung forschen, beschreiben etwas, das auch mich seit über vier Jahrzehnten begleitet, der ich als Physiker aus der physikalisch geprägten Klimaforschung stamme.
Dass die von uns ausgelösten Klimaänderungen das Leben von Menschen negativ beeinflussen werden, bis hin zum Tod bei Hitze oder Überschwemmungen und dem Verlust der Lebensgrundlagen, hat mich schon damals so berührt, dass ich vor 40 Jahren für intensivere Forschung und erste politische Schritte zum Klimaschutz warb, vor allem im Sachverständigenkreis klimatologische Grundlagenforschung beim Bundesforschungsministerium und in der Enquete-Kommission des Bundestages "Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" in den 1980er Jahren.
Die wissenschaftlichen Grundlagen der Klimaänderungen durch den Menschen sind überwiegend physikalischer Natur: Durch einen erhöhten Treibhauseffekt der Atmosphäre wird der Strahlungshaushalt der Erde geändert, die Erdoberfläche wird wärmer wird, sodass Eis an Land schmilzt, dadurch der Meeresspiegel steigt und überall neue Wetterextreme auftreten.
Auch heute noch, nach Jahrzehnten intensiver Forschung, geht es darum, das Wissen über den Klimawandel durch alle Disziplinen zu vertiefen, damit die Anpassung an unvermeidliche Klimaänderungen und die völkerrechtlich bindende Bremsung der Erwärmung gelingen und dabei unsere Zivilisation nicht überfordern.
Eine wesentliche Erleichterung im Umgang mit den Emotionen um den eigenen Forschungsgegenstand ist im Beitrag der Forscherinnen nicht angesprochen: die Änderung des persönlichen Lebensstils, sodass man dauerhaft zu möglichst wenig Treibhausgasemissionen beiträgt. Beispiele sind Ökostrombezug, ÖPNV-Nutzung, Nahrungsmittel aus der ökologischen Landwirtschaft sowie die Kompensation von Emissionen bei immer selteneren Flügen.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Wegen der viel zu kleinen Schritte in der globalen Klimapolitik sind die Treibhausgaspegel in der Atmosphäre inzwischen so weit angestiegen, dass die im völkerrechtlich bindenden Paris-Abkommen maximal erlaubte globale Erwärmung von "wesentlich unter zwei Grad" allein durch Minderung der Emissionen nicht mehr eingehalten werden kann.
Deshalb muss – zusätzlich zur Minderung der großen Quellen des Treibhausgases Kohlendioxid – ein Teil der Überlast aus der Atmosphäre entfernt werden. Das gelingt wahrscheinlich am ehesten durch Vergrößerung der natürlichen Speicher Boden und Biomasse.
Dazu erschien in dieser Woche eine wichtige neue wissenschaftliche Studie. Die Autoren zeigen durch eine Untersuchung von über 100.000 Beständen, dass die Kohlenstoffspeicherungsrate wachsender Wälder für etwa 30-jährige Sekundärwälder besonders hoch liegt. Solche Wälder stapeln pro Jahr und Hektar in der oberirdischen Biomasse je nach Region bis zu drei Tonnen Kohlenstoff.
Wie bereits bekannt, gilt das besonders für tropische Regenwälder. Aber auch für Wälder in den feuchteren mittleren Breiten, zum Beispiel Westeuropa, ist die Speicherungsrate mit etwa zwei Tonnen noch recht hoch.
Der Erhalt von Sekundärwäldern in diesen Regionen könnte daher zu einem wesentlichen Beitrag für den Klimaschutz führen. Da Waldschutz nicht nur zum Klimaschutz beiträgt, sondern auch in vielen Regionen die biologische Vielfalt stärkt, ist das Klima- und Naturschutz zugleich.
Außerdem werden dafür wohl entschieden weniger finanzielle Ressourcen benötigt als für das aufwendige "Wegsperren" von CO2 unter dem Meeresboden, das zur Rettung der Infrastruktur fossiler Brennstoffe von mächtigen Gruppen favorisiert wird.
Fragen: Jörg Staude, David Zauner