Klimareporter°: Für einen klimafreundlichen, nachhaltigen Umbau unserer Industriegesellschaft brauchen wir Fachleute in Wissenschaft, Verwaltung und Politik, die keine Fachidioten sind. Die also zum Beispiel beim CO2-Preis automatisch den sozialen Aspekt und die Folgen für Jobs mitbedenken. Dazu müssen Studierende entsprechend ausgebildet werden.

Herr Loske, Sie lehren Klima- und Biodiversitäts-Politik und sind für Ihren Ansatz von Ihrer Universität wiederholt ausgezeichnet worden. Was ist das Besondere dabei?

Reinhard Loske: Ich lege in meinen Seminaren größten Wert darauf, dass die Studierenden nicht nur aus einer Perspektive auf die Herausforderungen schauen, die dann vielleicht auch noch im Gewande der einzig denkbaren Wahrheit daherkommt. Es geht darum, die Kluft von Theorie und Praxis zu überwinden.

Die Seminare sind interdisziplinär angelegt, beziehen sich auf längere Betrachtungszeiträume und verbinden Faktenorientierung mit positiven Zukunftserzählungen und Zukunftsbildern.

 

Das klingt gut, aber was heißt es konkret? Bitte ein Beispiel.

Nehmen Sie die Klimapolitik und die Anpassung an den menschengemachten Klimawandel. Es ist wichtig, die naturwissenschaftlichen Grundlagen zu kennen, daher ist das Studium der Berichte des Weltklimarats IPCC unerlässlich. Man muss die völkerrechtlichen Grundlagen der Klimapolitik kennen, weshalb man von der Klimarahmenkonvention, dem Kyoto-Protokoll und den Pariser Klimazielen schon einmal gehört haben sollte.

Und es ist wichtig, die Politik der eigenen Regierungen kritisch beleuchten zu können und zu fragen, warum Anspruch und Wirklichkeit so eklatant auseinanderklaffen, in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern. Faktenwissen und das gemeinsame Erarbeiten analytischen Vermögens sind essenziell. Das reicht aber nicht.

Was muss hinzukommen?

Genauso wichtig wie Faktenwissen sind Wissen über Zusammenhänge, Orientierungswissen und vor allem Handlungswissen. Konkret: Wir schauen uns die Dinge vor Ort an und reden sowohl mit Betroffenen als auch mit Menschen, die die Probleme lösen.

Bild: Julia Zimmer­mann

Reinhard Loske

ist Nach­haltig­keits­forscher und Autor, zurzeit Honorar­professor an der Universität Witten/​Herdecke. Der Volks­wirt und Politik­wissen­schaftler forschte in den 1990er Jahren am Wuppertal Institut für Klima-Umwelt, Energie, war ab 1998 für die Grünen im Bundestag und ab 2007 Bremer Umwelt­senator. Später war er Professor für Trans­formations­dynamik in Witten und Präsident der Cusanus-Hochschule für Gesellschafts­gestaltung in Koblenz. Loske ist Vorstands­mitglied des Instituts für ökologische Wirtschafts­forschung und der Right Livelihood Foundation, die den "alternativen Nobelpreis" vergibt.

Wie sieht das in der Praxis aus?

Im Ahrtal etwa, das 2021 die Flutkatastrophe erlebt hat, haben wir mit der Aufbau- und Entwicklungsgesellschaft Bad Neuenahr-Ahrweiler ebenso gesprochen wie mit einem Priester, der sich der psychologischen und seelsorgerischen Betreuung von Hochwasseropfern widmet.

Im ersten Gespräch ging es um den resilienten und nachhaltigen Umbau der physischen Infrastrukturen im Ahrtal, also um Häuser, Verkehrswege, Energieversorgung. Im zweiten Gespräch ging es um die Neuausrichtung der "mentalen Infrastrukturen", um das Stiften von Zusammenhalt und Zuversicht in der Bevölkerung, nicht nur in Krisenzeiten, sondern auch darüber hinaus.

Schließlich haben wir im Gespräch mit einem ortsansässigen Architekten gelernt, wie vermeintlich kostengünstiges Bauen in der Vergangenheit sich im Falle von Wetterextremen rächt und was daraus für die Zukunft zu lernen ist. Und nicht zuletzt haben uns die Powerfrauen des Helfer-Stabs Ahrtal gelehrt, wie sich Betroffeneninteressen durch Kompetenz und Beharrlichkeit durchsetzen lassen.

So war das Seminar dann kein reines Klimaseminar mehr, sondern ein Seminar über Flussdynamiken, falsche Siedlungspolitik, Infrastrukturen, Sozialpsychologie, Resilienz, Vorsorge, Verwaltungshandeln, Anpassung und vor allem Kooperation. Also im besten Sinne interdisziplinär.

Was haben die Studierenden konkret aus dem Ahrtal-Seminar mitgenommen?

Es war ein internationaler Kurs mit Studierenden aus Europa, Asien und Afrika. Daher haben wir das letzte Drittel des Seminars damit verbracht, zu fragen, wie die Themen Klimavorsorge und Klimaanpassung, Katastrophenprävention und Katastrophenmanagement in anderen Teilen der Welt aussehen. Das war unglaublich lehrreich, auch für mich.

Eine Studentin aus Indien berichtete über den Umgang mit Hitze in den Städten, ein Student aus Tschechien über den Umgang mit Hochwasser und ein Student aus Ghana über Starkniederschläge und Bodenerosion.

Drei Lehren schienen den Studierenden besonders evident: Vorsorgen ist besser als kostenintensives und leidvolles Anpassen an Dauerextreme. Wechselseitiges Lernen kann bei Klimavorsorge und Klimaanpassung helfen. Und: Es geht beim Klimaschutz nicht nur um Technik.

Um die geht es zwar auch, aber es geht mindestens ebenso sehr um Vorsorge, Zusammenarbeit, Empathie, Respekt vor der Natur, die Heilung von Wunden und Genügsamkeit im Angesicht von Grenzen des Wachstums. Daraus lassen sich in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen gute Zukunftsbilder zeichnen.

Sie kritisieren auch, dass in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen der Zusammenhang mit Natur und Gesellschaft oft unterbelichtet ist ...

Nicht nur da, es herrscht auch eine ziemliche Geschichtsvergessenheit und Kurzfristorientierung. Im Englischen spricht man vom short-termism.

Nehmen wir die Ökonomie beziehungsweise ihren neoklassischen Mainstream. Deren Leitsterne sind: der Eigennutz, der Wettbewerb, das Größenwachstum, die Rendite, die Arbeitsteilung, die Effizienz, der Freihandel und die Kostenminimierung – auch durch Kostenabwälzung auf Dritte. Jedes dieser ökonomischen Ziele mag für sich eine gewisse Plausibilität haben, aber durch ihre Verabsolutierung sind sie natur- und gesellschaftszerstörend geworden.

Eine studentische Initiative an der TU Berlin gibt ihr Wissen weiter, das sie bei der Installation einer Solaranlage auf der Bibliothek erworben hat. Es geht um Technik, Recht und Durchsetzungsstrategien. (Bild: Solar Powers)

Würde man die Ökonomie historisch beleuchten und auch ihre Langfrist-Aufgaben in den Mittelpunkt rücken, wäre leicht erkennbar, dass sie vor allem zwei Funktionen hat: nämlich die Menschen mit Gütern und Dienstleistungen zu versorgen und zugleich ihre eigenen Grundlagen dauerhaft zu bewahren.

Was folgt daraus?

In meinen Seminaren behandle ich die Ökonomie vor allem als Sozialwissenschaft, die eng mit natur- und kulturwissenschaftlichen Aspekten verbunden ist. In meinem nächsten Seminar geht es zum Beispiel auch um die Sozioökonomie der biologischen Vielfalt, also um die vielen Gratisleistungen, die die Natur uns als Gesellschaft gewährt.

Und es geht natürlich auch wieder mit Exkursionen ins Freie, um zu sehen, was draußen in der Welt wirklich und konkret passiert.

Und was ist mit der Rolle der Politik? Sie waren ja selbst lange Politiker und sind Politikwissenschaftler.

Keine Frage, demokratische und verantwortungsgeleitete Politik ist absolut zentral. Ich habe sie selbst von der kommunalen über die Landes- und Bundes- bis zur Europaebene über zwei Jahrzehnte mit Freude praktiziert. Ich fürchte allerdings, in den vor uns liegenden Jahren werden wir in den Parteiendemokratien eher ein Durchwursteln mit schwierigen Konstellationen erleben als eine konsistente Nachhaltigkeitspolitik aus einem Guss.

Es wäre deshalb grob fahrlässig, alles auf die Karte Parteipolitik zu setzen oder gar alles bei einer Partei abzuladen. Wir brauchen gute Leute, für die die Lebens- und Überlebensfragen im Zentrum stehen, in allen Parteien, damit die sozial-ökologische Transformation zur echten Gemeinschaftsaufgabe werden kann.

Woher sollen die Leute dafür kommen?

Am wichtigsten ist es momentan, dass die Bildung auf allen Ebenen systematisch mit der Ökologiefrage verbunden wird und möglichst viele der ökologisch sensibilisierten jungen Menschen den langen Marsch durch die Institutionen antreten und sich in Unternehmen, Verwaltungen, Organisationen, Verbänden, Vereinen, Bürgerräten, Kirchen und dem Ehrenamt engagieren.

Das hätte auch den Vorteil, dass die primär akademische Anmutung, die den Klimadiskurs heute auszeichnet, ein wenig abgemildert wird. "Klimaschutz" geht alle an – das heißt im Umkehrschluss eben auch, dass das Gerede der Populisten vom Klimaschutz als elitärer Veranstaltung, die von heimat- und empathielosen Globalisten vorangetrieben wird, als das entlarvt wird, was es ist: Faktenverleugnung und Propaganda.

 

Das heißt für die Wissenschaft: Raus aus dem akademischen Elfenbeinturm?

Ja und nein. Für uns als Akademikerinnen und Akademiker, als Lehrende und Studierende ist es fantastisch und anregend, über Klimagerechtigkeit und planetare Grenzen zu reflektieren, über Kipppunkte im Klimasystem und das Konzept des Anthropozäns, über intergenerative Gerechtigkeit und Eigenrechte der Natur. Das ist unverzichtbar, denn Handeln sollte immer auch auf wissenschaftlichen Fakten und theoretischen Reflexionen fußen.

Aber Menschen haben nun einmal unterschiedliche Zugänge zu ökologischen Fragen, manche einen praktischen und anpackenden Zugang, andere einen intuitiven oder spirituellen, manche einen technisch-ökonomischen, wieder andere einen ästhetischen oder lebensweltlichen. Kurz gesagt, und vielleicht auch etwas pathetisch: Alle Kräfte guten Willens werden mit ihren jeweils spezifischen Kompetenzen für eine ökologisch-soziale Transformationspraxis gebraucht.