Hartmut Graßl. (Bild: Christoph Mischke/​VDW)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.

Klimareporter°: Herr Graßl, der Weltklimagipfel in Brasilien kommt nicht aus den Schlagzeilen. Nichtregierungsorganisationen warnen vor dem Einfluss fossiler Konzerne auf der in zwei Wochen beginnenden COP 30, während Delegationen weiter über zu teure Unterkünfte klagen. Was erwarten Sie vom Weltgipfel in Belém?

Hartmut Graßl: Die 30. UN-Klimakonferenz wird ein Spiegelbild der globalen Verhältnisse sein. Dazu gehören:

Erstens die um ihre Privilegien kämpfenden Besitzer und Verteiler der fossilen Brennstoffe Erdgas, Erdöl und Kohle, zweitens die in Umweltfragen erstarkte Zivilgesellschaft vieler vor allem demokratisch regierter Länder, drittens die mit Auftriebstendenz versehenen Autokratien, viertens die zunehmenden Konflikte in einer sich gerade umwälzenden geopolitischen Lage sowie fünftens die armen Länder des sogenannten globalen Südens, die den Klimawandel schmerzlich spüren, ihn aber nicht verursacht haben.

Brasilien hätte gute Voraussetzungen, einen wesentlichen Schritt zum globalen Klimaschutz zu schaffen. Präsident Lula könnte sein Lebenswerk mit einem Durchbruch bei der Finanzierung der durch den Klimawandel verursachten Schäden in den armen Ländern krönen. Er könnte dabei seinen Intimfeind "vorführen", den an der Seitenlinie stehenden Präsidenten der Noch-Weltmacht, dem viele weitere Länder seine Lügen zum Klimawandel nicht glauben.

Nicht erst 2045, sondern schon 2040 will die Hansestadt Hamburg klimaneutral sein. Dafür stimmte eine Mehrheit in einem Volksentscheid. Sind die fünf Jahre, die Hamburg die Netto-Null bei den CO2-Emissionen eher erreichen will, klimapolitisch überhaupt relevant?

In meiner Wahlheimat Hamburg hat ein vergleichsweise kleiner Prozentsatz der Bevölkerung – die Regeln zu einem Volksentscheid klug nutzend – der zurzeit preiswertesten Energie Vorrang eingeräumt, nämlich der aus den erneuerbaren Quellen Sonne und Wind, und das Bundesland Hamburg zur Treibhausgasneutralität 2040 verpflichtet.

Damit haben die mit "Ja" Abstimmenden zum Beispiel den Eigenheimbesitzern schon früher zu einer – längerfristig gerechnet – preiswerteren Heizung mit einer Wärmepumpe verholfen. Denn über die Lebensdauer einer Heizanlage gerechnet muss diese aus rein physikalischen Gründen preiswerter sein, wenn sie etwa zwei Drittel der Wärme aus der Umwelt holt.

Umweltbewusste Mieter können jetzt darauf hoffen, dass die Fernwärmeversorgung ihrer Wohnung durch eine große Wärmepumpenanlage oder eine Nutzung industrieller Abwärme früher kommt als bisher geplant.

Oft wird bei der Klimaschutz-Debatte das Nonsens-Argument verwendet, dass in einem deutschen Bundesland oder auch in Deutschland insgesamt nur sehr kleine Prozentsätze von Treibhausgasemissionen eingespart werden und erst einmal die großen Emittenten mit dem Einsparen dran wären.

Richtig betrachtet emittiert Deutschland mit einem Prozent der Weltbevölkerung auch nach Einsparung von etwa der Hälfte der jährlichen Emissionen seit 1990 heute immer noch zwei Prozent der weltweit ausgestoßenen Treibhausgase.

Ein Mensch in Deutschland emittiert also doppelt so viel wie ein globaler Durchschnittsbürger. Eine weitere Einsparung in Deutschland ist daher notwendig – sie ist angesichts der früher extrem hohen Emissionen mehr als gerecht.

Der Hamburger Senat ist durch den Bürgerentscheid zu einer schnelleren Gangart beim Abschied von der Nutzung fossiler Brennstoffe verpflichtet. Als Rentner und Pensionär muss ich also für eine gerechtere Behandlung der jungen Generation einen höheren Beitrag leisten. Ich bin gespannt, was unsere Volksvertreter sich dazu einfallen lassen.

Das großflächige Absterben von Korallenriffen zeigt laut dem neuen "Global Tipping Points Report", dass ein erster Kipppunkt des weltweiten Klimasystems vermutlich bereits erreicht wurde. Weitere Risiken betreffen gemäß dem Report Gletscher, Eisschilde, Meeresströmungen und Regenwälder. Wie ernst müssen wir diese Kipppunkte für unser Leben nehmen?

Die Diskussion über Kipppunkte im Klimasystem nimmt immer stärker Fahrt auf.

Ich möchte anhand der Bedrohung der Warmwasserkorallenriffe, die jüngst im Zusammenhang mit Kipppunkten detaillierter als bisher beschrieben wurde, einen Aspekt beleuchten, der in der Debatte um Klimaänderungen durch uns Menschen selten diskutiert wird: die extrem hohe Geschwindigkeit der Eingriffe des Menschen, die den meisten biologischen Systemen ihre Chance zur Anpassung nicht mehr lässt.

Warum sollten bei den vor Jahrmillionen noch höheren CO2-Gehalten der Atmosphäre die Temperaturen an der Ozeanoberfläche früher nicht schon höher gewesen sein als heute?

Der Grund für die heutige Bedrohung liegt in der Geschwindigkeit der Veränderung. Einer der bisher schnellsten Prozesse im Klimasystem ist das Verschwinden großer Eisschilde im Rhythmus der Eiszeit-Zwischeneiszeit-Schwankungen.

In etwa zehntausend Jahren schmelzen beim Übergang in eine Zwischeneiszeit mehrere Kilometer mächtige Eisschilde ab, und die Temperatur steigt im globalen Mittel dabei um vier bis fünf Grad Celsius. Die Vegetationszonen verschieben sich dabei um mehr als tausend Kilometer polwärts.

Das soll im heutigen Industriezeitalter in nur wenigen Jahrhunderten möglich sein? Die zigfach höhere Geschwindigkeit der Temperaturänderungen überfordert die viel Zeit benötigende evolutionäre Anpassung der Arten – also sterben die Riffe und damit viele andere in ihnen lebende Arten.

Extremwetterereignisse hängen linear mit der globalen Erwärmung zusammen, betont Klimaforscherin Friederike Otto im Interview mit Klimareporter°. Otto hat vor über zehn Jahren die Forschungsgruppe World Weather Attribution mitgegründet. Diese berechnete in bislang über einhundert Studien, wie stark der Klimawandel ein bestimmtes Extremwetterereignis beeinflusst hat. Wie schauen Sie auf diesen noch vergleichsweise jungen Zweig der Klimaforschung?

Vor etwa zehn Jahren haben die stark verbesserten Klimamodelle – im Wechselspiel mit den immer präziseren Beobachtungen des heutigen Klimasystems und den aus der Klimageschichte rekonstruierten Daten – eine Güte erreicht, die es erlaubte, bei Rechnungen mit und ohne den höheren Treibhauseffekt der Atmosphäre den Anteil der globalen Erwärmung an extremen Wetterereignissen einzuschätzen.

Zunächst gelang das am ehesten für Hitzewellen, ist aber inzwischen auch für fehlende und extrem hohe Niederschläge sowie die daraus folgenden Dürren und Überschwemmungen möglich.

Noch vor 15 Jahren habe ich, befragt nach der Rolle des Klimawandels für einzelne Extremereignisse, mit Überzeugung sagen können: Das lässt sich nicht berechnen. Aber inzwischen nutzen auch meteorologische Dienste wie zum Beispiel der Deutsche Wetterdienst diese neuen Möglichkeiten der Klimaforschung.

Die Attributionsforschung schafft auch eine verbesserte Basis für die internationale Klimapolitik, um die Schäden eines Extremwetterereignisses dem Klimawandel zuzuordnen. Bei der COP 30 in Brasilien wird einer der Hauptpunkte der Debatte und hoffentlich der Beschlüsse die Schadensbegleichung gegenüber dem globalen Süden durch die Hauptverursacher des Klimawandels sein, die Industrieländer und die großen Schwellenländer.

Pionieren wie Friederike Otto ist es zu verdanken, dass es das jetzt möglich ist, den Anteil des Klimawandels und damit die Verantwortung für die erhöhten Schäden durch Extremwetter den Industrieländern zuzuordnen.

Damit wird der bisherigen Hinhaltetaktik der Reichen angesichts der Forderung, für einen kleinen Ausgleich zu sorgen, die Basis entzogen. Und es unterstreicht, wie wichtig der Dialog der Entscheider mit den Wissenschaftlern ist.

 

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Da ich selbst viele Jahre im Bereich der Fernerkundung der Ozeanfarbe mit Satellitendaten geforscht habe – mit Mitarbeitern am GKSS-Forschungszentrum in Geesthacht, am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg und am Nansen Centre in St. Petersburg –, interessieren mich neue wissenschaftliche Erkenntnisse dazu besonders.

Die Färbung des Ozeans enthält Informationen über die Algenblüten und damit die Basis des Lebens im Ozean sowie auch zu einem Teil des Kohlenstoffkreislaufs im Ozean. Deshalb hat mich diese Woche eine neue Arbeit von hauptsächlich chinesischen Kollegen in der Zeitschrift Science Advances aus den USA fasziniert: "Declining ocean greenness and phytoplankton blooms in low to mid-latitudes under a warming climate".

Die Kollegen zeigen zum ersten Mal, dass die Masse des Phytoplanktons von 2003 bis 2023 im Mittel um 1,8 Prozent pro Jahr schrumpfte, küstennah dabei stärker als im offenen Ozean. Der Nachweis gelang durch Kombination von Satellitendaten mit direkten Beobachtungen der Konzentration des Farbstoffs Chlorophyll in den Algen im oberflächennahen Ozeanwasser sowie der Temperatur der Ozeanoberfläche über mehr als der halben globalen Erdoberfläche unter zusätzlicher Nutzung künstlicher neuronaler Netze. Dabei konnte auch die Diskrepanz zu früheren, fast nur auf Satellitendaten beruhenden Auswertungen geklärt werden.

Der Grund für die Plankton-Schrumpfung ist sehr wahrscheinlich die geringere Nährstoffversorgung aus dem Ozeaninneren wegen der stabileren Schichtung des oberen Ozeans, die wiederum eine Folge der stärkeren Erwärmung der obersten Ozeanschicht im Vergleich zum Ozeaninneren ist, also ein Effekt der globalen Erwärmung.

Fragen: Jörg Staude