Rostiges Autowrack in der Wüste im Zwielicht.
Die Erde wird trotz Klimakrise bleiben, aber wir Menschen? Das hängt von uns ab. (Foto: Delyth Williams/​Pixabay)

Stellt der Weltklimarat IPCC die Situation besser dar, als sie ist, um nicht alarmistisch zu klingen – aus Sorge, die bislang ohnehin zu schwach ausgeprägte Bereitschaft zum Klimaschutz noch weiter zu schwächen?

Kritik an einer allzu zahmen, beruhigenden Darstellung der Klimawandelrisiken wird seit Langem erhoben, etwa auch von Hans Joachim Schellnhuber, dem bekanntesten deutschen Klimaforscher und seinerseits IPCC-Autor.

Der frühere Chef des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung attestierte der klimawissenschaftlichen Community bereits 2018 einen Hang zur "Betriebsblindheit" und die Tendenz, "auf der Seite mit dem geringsten Drama zu irren". Beim IPCC, so Schellnhuber, gebe es eine "Wahrscheinlichkeitsobsession", also eine übermäßige Fokussierung auf wahrscheinliche Szenarien.

Dadurch werde das Vertraute gegenüber dem Unbekannten und Unerwarteten bevorzugt, obwohl der Klimawandel ein aus menschlicher Sicht noch nie dagewesenes Ereignis und damit das Unbekannte schlechthin darstellt.

Der Möglichkeit besonders gefährlicher Entwicklungen, wie dem Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation, werde hingegen zu wenig Beachtung geschenkt ist. Bei einem Problem von der Dimension der Klimakrise sei ein solches Vorgehen wenig brauchbar. Schließlich können auch Ereignisse eintreten, die jetzt unwahrscheinlich erscheinen.

Gemeinsam mit Johan Rockström, dem heutigen Chef des Potsdam-Instituts, sowie weiteren namhaften Klimawissenschaftler:innen hat Schellnhuber nun seine Kritik erneut formuliert. In einem am heutigen Montag veröffentlichten Artikel in der Fachzeitschrift PNAS fordern die beiden, Worst-Case-Szenarien stärker in der Forschung zu berücksichtigen – und auch bei Anpassungsmaßnahmen.

Gerade die Szenarien mit den massivsten Konsequenzen seien bislang am wenigsten verstanden und würden zudem unzureichend beforscht, kritisieren sie.

Weltklimarat soll Sonderbericht vorlegen

Gemeint ist eine Erderhitzung um drei Grad oder mehr. Ein solcher Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur, so die Autor:innen, würde nicht nur massive ökologische Folgen haben. Zwei Milliarden Menschen würden dann beispielsweise in Gebieten mit extremer Hitze leben, statt aktuell 30 Millionen. Diese Regionen gehören zu den am dichtesten besiedelten und gleichzeitig den politisch instabilsten.

Auch die sozialen und sozioökonomischen Folgen wären laut dem Forschungsteam extrem: zunehmende Ungleichheit, Desinformation, Zusammenbruch der Demokratie, kriegerische Auseinandersetzungen. Selbst ein weltweiter gesellschaftlicher Kollaps und das Aussterben der Menschheit könne nicht ausgeschlossen werden.

Ähnlich argumentierten bereits vor drei Jahren die Autoren einer Studie des australischen Thinktanks Breakthrough, David Spratt und Ian Dunlop. Das existenzielle Risiko der Klimakrise werde unterschätzt. Ein Schaden wie der Zusammenbruch unserer Zivilisation lasse sich nicht quantifizieren, eine Wahrscheinlichkeitsberechnung ergebe deshalb keinen Sinn.

Doch selbst im noch quantifizierbaren Bereich unterschätze man das Risiko, wenn man sich vor allem auf die relativ wahrscheinliche Erwärmung konzentriere und die Worst-Case-Szenarien ausblende, so Spratt und Dunlop. Denn bei Szenarien mit extremer Erhitzung nehmen die Schäden exponentiell zu. Schellnhuber schrieb damals das Vorwort zu der Studie.

Im aktuellen PNAS-Artikel fordert die Gruppe um Schellnhuber nun vom IPCC einen Sonderbericht zu den Folgen eines katastrophalen Klimawandels. Die drohenden Folgen für Klima, Umwelt und Gesellschaften müssten besser verstanden werden, sodass mit darauf abgestimmten Anpassungsmaßnahmen reagiert werden könne.

"Besser die kritische Dekade bis 2030 nutzen"

Unter Fachleuten trifft der Artikel auf ein gemischtes Echo. "Was den Fokus der Forschung betrifft, insbesondere der Szenarienentwicklung, müssen wir sicherlich weitere Perspektiven aufmachen", sagt Carl-Friedrich Schleussner vom Berliner Thinktank Climate Analytics.

"Wir betrachten im Moment meist die Risiken von Klimawandel in einer sonst idealisierten und konfliktfreien Welt", so der Experte für klimabedingte Verluste und Schäden. "Die Realität ist eine andere. Im Jahr 2022 und leider vermutlich auch über lange Zeit im 21. Jahrhundert."

Dass die Klimaforschung sich bislang kaum mit hohen Risikoszenarien beschäftigt habe, trifft aus Schleussners Sicht aber nicht zu. "In der Tat ist das Gegenteil der Fall. Die mit großem Abstand meisten wissenschaftlichen Studien untersuchen Klimafolgen bei extremen Erwärmungsszenarien, zum Beispiel dem RCP 8.5." Dies ist das Szenario mit den höchsten CO2-Emissionen und einem Temperaturanstieg von 4,8 Grad.

Ob eine stärkere Beschäftigung mit "Climate Endgame"-Szenarien – so lautet der Titel des PNAS-Artikels – zu mehr Klimaschutzanstrengungen führen würde, bezweifelt Schleussner. Wichtiger sei, "die kritische Dekade bis 2030" zu nutzen. "Das ist der Fokus, auf den wir uns mit allen wissenschaftlichen, kommunikativen und politischen Mitteln konzentrieren sollten."

Der Hamburger Kommunikationsforscher Michael Brüggemann sieht das ähnlich. "Natürlich sollen sich Forschende auch mit den extremen Szenarien auseinandersetzen, aber für die öffentliche Debatte ist es wichtiger, sich auf die wahrscheinlichen Risiken zu konzentrieren."

"Es hilft nicht, die Augen zu verschließen"

Die seien schon gravierend genug und forderten Politik und Bürger:innen hinreichend heraus, so der Experte für Klima- und Wissenschaftskommunikation. "Wir brauchen eine konstruktive Debatte, was wir jetzt tun können gegen die Klimakrise. Was die Menschen mental eher überfordert, sind Spekulation über noch extremere Gefahren, die uns auch noch drohen könnten."

Ob apokalyptische Szenarien Menschen zu mehr Klimaschutz bewegen oder doch eher das Gegenteil bewirken, ist unklar. "Einerseits können eindringliche Szenarien in der öffentlichen und politischen Aufmerksamkeitsökonomie durchdringen, ein Bewusstsein für das Thema schaffen und Dringlichkeit vermitteln", sagt der Heidelberger Experte für Wissenschaftskommunikation Philipp Schrögel.

"Andererseits kann es gleichermaßen vorkommen, dass Einzelne davon überwältigt werden, keine individuellen Handlungsperspektiven sehen und die Szenarien ignorieren." 

Schrögel, der sich mit "Apokalyptischen und Postapokalyptischen Studien" beschäftigt, plädiert dafür, dass wissenschaftliche Szenarien zur Risikobewertung die Bandbreite möglicher Entwicklungen abdecken. "Dazu gehören auch weniger wahrscheinliche, katastrophale Szenarien, die eben doch auch eintreten können. Es hilft nicht, die Augen vor einer möglichen Katastrophe zu verschließen, wie es satirisch im Film mit dem dazu passenden Titel 'Don't Look Up' auf die Spitze getrieben wurde."

Lesen Sie dazu unseren Kommentar: Apokalypse nicht ausgeschlossen

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