Klimareporter°: Herr Koch, Sie sind Koautor einer internationalen Studie zum sozialverträglichen Kohleausstieg. Diese untersuchte unter anderem den ökonomischen Nutzen des sogenannten "Anpassungsgeldes" im Kohlebergbau. Der staatliche Zuschuss ermöglicht es, dass Beschäftigte mit 58 abschlagsfrei in Rente gehen können.
Ist das Konzept des "Anpassungsgeldes" nicht logisch angesichts des Umstands, dass sich der Arbeitsplatzabbau in der heimischen Kohle seit eh und je vor allem in der Weise vollzieht, dass ältere Beschäftigte über Rente oder Vorruhestand ausscheiden und keinen neuen Arbeitsplatz außerhalb der Kohle mehr annehmen?
Nicolas Koch: In der Tat sind die Arbeitskräfte im Braunkohlesektor immer älter geworden. Unsere Daten zeigen, dass das Durchschnittsalter von 38 Jahren im Jahr 1992 auf 46 Jahre im Jahr 2017 anstieg.
Es stimmt auch, dass in der Vergangenheit Beschäftigung sozial verträglich über betriebliche Frühverrentung abgebaut wurde. Vergleichsweise großzügige betriebliche Vorruhestandsregelungen waren gängige Praxis in der Braunkohleindustrie.
In der Lausitz ging sogar mehr als die Hälfte der Braunkohlebeschäftigten vor Erreichen des Alters von 58 Jahren in Rente. Im Alter von 60 sind bereits über drei Viertel der ehemaligen Beschäftigten von Braunkohletagebauen in Rente. Seit 2020 sorgt nun das staatlich finanzierte Anpassungsgeld weiter dafür, dass viele Braunkohlebeschäftigte frühzeitig in die Rente eintreten.
Unsere Analysen zeigen: Die Alterung der Belegschaft wird auch weiter ein Faktor für den Beschäftigungsabbau bleiben …
... auch dann, wenn der Kohleausstieg nicht nur im Westen, sondern auch im Osten vorgezogen wird, möglicherweise auf 2030?
Je früher der Kohleausstieg kommt – also zum Beispiel bereits 2030 –, desto mehr 30- bis 50-jährige Beschäftigte werden dann vom Beschäftigungsabbau betroffen sein. Und unsere Analysen zeigen klar, dass die 30- bis 50-Jährigen dann die höchsten Folgekosten zu tragen haben.
Der Hauptgrund dafür ist, dass diejenigen, die aus der Kohlebranche in andere Wirtschaftszweige wechseln, dann in weniger gut bezahlte und weniger gesicherte Jobs wechseln.
Die größten Einkommens-Einbußen nach dem Ausscheiden aus der Kohleindustrie entstehen für die Beschäftigten dabei nicht wegen der durch Arbeitslosigkeit entgangenen Einkommen, sondern, wie unsere Daten zeigen, nach dem Wechsel wegen der dann niedrigeren Löhne und der geringeren Arbeitsplatzsicherheit.
Die Studie zeigt aber zugleich: Auch außerhalb der Kohle gibt es für Bergleute eigentlich keinen Mangel an Beschäftigung. Vor allem Maschinen- und Fahrzeugmechaniker und Lkw-Fahrer finden laut der Studie leicht eine neue Beschäftigung. Das sind, soweit das zu sehen ist, aber keine bergbauspezifischen Berufe.
Sind die Beschäftigungschancen für einen Kraftfahrer, der praktisch überall in seinem Beruf arbeiten kann, deutlich besser als für jemand, der beispielsweise am Leitstand im Kraftwerk stand?
Nicolas Koch
leitet eine Forschungsgruppe am Klimaforschungsinstitut MCC in Berlin. Sein Schwerpunkt ist die Bewertung der Wirksamkeit klima- und umweltpolitischer Maßnahmen wie CO2-Bepreisung, Verkehrswende, sozial verträglicher Kohleausstieg oder Waldschutzpolitik. Koch hat Volkswirtschaftslehre studiert und an der Universität Hamburg promoviert.
Ja, das ist richtig. Allerdings beschränkt sich unsere Analyse eben allein auf den Braunkohlebergbau. Dort sprechen die Zahlen aber ganz klar dafür, dass es außerhalb des Braunkohlebergbaus gute alternative Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.
80 Prozent der ehemaligen Braunkohle-Bergleute wechseln nach unseren Daten in Berufe, die ebenfalls zu den Top Ten der Berufe innerhalb des Braunkohlebergbaus gehören. Das zeigt, dass Bergleute außerhalb des Kohlebergbaus zahlreiche Möglichkeiten haben nach dem Ausscheiden aus dem Braunkohlebergbau.
Die relativ breite Streuung der Berufe in der Braunkohle zeigt, dass grundsätzlich keine bergbauspezifischen Abhängigkeiten bestehen. Die beiden am häufigsten zu findenden Berufe – das sind Maschinen- und Fahrzeugmechaniker und Lkw-Fahrer – finden wir nach dem Ausscheiden aus dem Braunkohlebergbau bei einem Drittel aller ausgeübten Berufe wieder. Diese beiden Berufe scheinen sehr robust gegenüber makroökonomischen Krisen zu sein und sind nicht auf bestimmte Branchen oder Unternehmen konzentriert.
Obwohl es also nicht an Beschäftigungsmöglichkeiten mangelt, schlägt die Studie vor, für die derzeit noch bundesweit 15.000 "restlichen" Beschäftigten in der Braunkohle eine neue Übergangsregelung zu schaffen, die sogenannte Entgeltsicherung: Weil Kohlebeschäftigte im Schnitt im neuen Job rund ein Viertel weniger verdienen, soll ihr Lohn aus öffentlichen Mitteln für fünf Jahre aufs Kohleniveau aufgestockt werden. Was versprechen Sie sich davon?
Anstatt durch staatliche Zuschüsse die gängige Praxis des Vorruhestands zu fördern, könnten die Steuergelder besser dafür verwendet werden, Beschäftigten den Umstieg in andere Branchen zu erleichtern. Hier bietet sich eben eine sogenannte Entgeltsicherung an, eine befristete Zahlung, die den Gehaltsunterschied vom Bergbau zur neuen Branche ausgleicht.
Diese Zahlung sollte – so unser Vorschlag – auch so gestaltet sein, dass sie es Beschäftigten in der Braunkohleindustrie ermöglicht, selbst die Initiative zu ergreifen, sich einen anderen Job zu suchen, ohne auf Gehalt zu verzichten.
Das bisherige Anpassungsgeld betrifft hingegen nur Beschäftigte, deren Stellen abgebaut werden. Es ermöglicht den Leuten nicht, selbst auf vielversprechende Angebote auf dem Arbeitsmarkt zu reagieren.
Eine Entgeltsicherung dagegen könnte nicht nur gut bezahlten Beschäftigten eine Perspektive jenseits der Frührente eröffnen, sie würde auch der regionalen Wirtschaft nützen, die wertvolle Fachkräfte erhielte.
Die Studie erinnert daran, dass es so eine Aufstockungslösung in Deutschland bereits für ältere Langzeitarbeitslose bis 2011 gegeben hat und diese auch erfolgreich gewesen sei. Sind Sie sicher, dass gut verdienende Kohlebeschäftigte so eine Aufstockung genauso gut finden werden wie ältere Arbeitslose, denen damals als Alternative drohte, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein?
Die Inanspruchnahme der Entgeltsicherung wäre ja freiwillig. Sie würde den Beschäftigten in der Braunkohleindustrie die Möglichkeit geben, selbst die Initiative zu ergreifen, einen anderen Job zu suchen, ohne auf Gehalt zu verzichten.
Ich glaube, dass diese Unterstützung von Eigeninitiative und der finanzielle Anreiz so ein Entgeltsicherungs-Programm ausreichend attraktiv machen würde.
Schafft so eine Aufstockung nicht unzumutbare Konflikte im neuen Unternehmen, wenn dort ehemalige Bergleute auftauchen, die zumindest anfangs nicht die gleiche Leistung und Unternehmenszugehörigkeit wie die "alten" Beschäftigten aufweisen, aber im Schnitt ein Viertel mehr verdienen?
Das haben wir nicht untersucht. Lohnunterschiede gibt es in Betrieben auch heute schon. Zudem wäre die Aufstockung staatlich finanziert und befristet.
Nach Ihrem Vorschlag soll der Zuschuss zum Lohn für fünf Jahre gezahlt werden und dann wegfallen. Wird das nicht in der Realität dazu führen, dass die Entgeltsicherung für ehemalige Kohlebeschäftigte eine Art "Überbrückungsgeld" in den Vorruhestand oder die Rente wird – dass die früheren Bergleute sich also sagen, für die paar Jahre nehme ich für das Geld den neuen Job in Kauf?
Es kann natürlich sein, dass die Entgeltsicherung auch für ältere Arbeitnehmer attraktiver ist als der Vorruhestand. Auch dann würde die Wirtschaft ja davon profitieren, wenn diese Leute, die noch arbeiten wollen und können, weiter im Arbeitsmarkt aktiv wären.
Für alle anderen älteren Arbeitnehmer bliebe auch die fest etablierte betriebliche Frühverrentung als Alternative.
Unsere Analysen zeigen aber klar, dass die Entgeltsicherung gerade für die heute 30- bis 50-Jährigen attraktiv sein würde. Dieser Gruppe, die die größten Kosten in dem Übergangsprozess trägt, wird bislang keine Unterstützung geboten.
Mit einer Entgeltsicherung blieben die Beschäftigten mittleren Alters länger im Job. Wir können zudem zeigen, dass dies entscheidend ist, um den gesamten persönlichen Wohlfahrtsverlust durch den Kohleausstieg auf nahe null zu drücken.
Das gelingt nicht, wenn wir allein auf die Frühverrentung setzen. Wir müssen stattdessen Anreize setzen, um Fachkräfte im Arbeitsmarkt zu halten.
Im Lausitzer Braunkohlerevier stellte die Landespolitik die Forderung auf: Bevor 1.000 Megawatt Kohleverstromung stillgelegt werden, müssen 1.000 gleichwertige, gute bezahlte Industriearbeitsplätze als "Ersatz" zur Verfügung stehen. Ist die soziale Mobilität der Kohlebeschäftigten aber nicht zu gering für so einen Wechsel? Braucht eine neue Industrie nicht neue Leute mit anderen Ausbildungs- und Beschäftigungsbiografien?
Das mag für bestimmte neue Industrien teilweise zutreffen. Doch der entscheidende Grund für die geringe Mobilität der Braunkohlebeschäftigten sind die Unterschiede bei Lohn und Arbeitsplatzsicherheit. Die im Braunkohlebergbau ausgeübten Berufe sind ansonsten in vielen Branchen gefragt.
Wie erwähnt, wechseln 80 Prozent der ehemaligen Braunkohle-Bergleute in Berufe, die ebenfalls zu den Top Ten der Berufe innerhalb des Braunkohlebergbaus gehören. Die Ausbildungs- und Beschäftigungsbiografien sind also nicht das Kernproblem.