An einer Kreuzung in Kopenhagen warten Dutzende Radfahrer.
Die dänische Hauptstadt Kopenhagen ist heute ein Vorbild für Stadtplanung mit menschlichem Maß. (Foto: Heb/​Wikimedia Commons)

Klimareporter°: Herr Gehl, Ihre Architekten-Karriere begann damit, dass Sie auf italienischen Piazze Menschen beobachteten. Was hat Sie damals bewegt?

Jan Gehl: Als frischgebackener Architekt habe ich 1960 zusammen mit meiner Frau viel darüber diskutiert, wie man Hausprojekte aufbaut und die nötige Stadtinfrastruktur plant. Damals dominierte noch die Ideologie moderner Architektur und die Obsession für motorisierte Mobilität.

All das alte Wissen über ein gutes Wohnumfeld und lebenswerte Städte wurde einfach zugunsten dieser Modernität weggeworfen. In der Stadt- und Verkehrsplanung regierten die Technokraten. Die Menschen, die in diesen Umgebungen wohnen mussten, wurden von der Stadtplanung komplett übersehen.

Was haben Sie mit dieser Einsicht angefangen?

Uns war klar, dass es dringend notwendig ist, Wissen darüber zusammenzutragen, wie Menschen auf ihre physische Umgebung reagieren, und dass dies für die Lebensqualität entscheidend ist. Das gab es vorher nicht. Das war ein richtiger Neuanfang.

Zuerst gingen wir 1965 nach Italien, um uns anzuschauen, wie Italiener die Piazze oder großen Plätze nutzen. Später habe ich als Forscher und Dozent an der Architekturschule in Kopenhagen systematisch erforscht, wie Menschen Städte benutzen und wie Räume, Strukturen, Details und Größenverhältnisse dieses Verhalten beeinflussen.

Gute Architektur und gute Städte sind eine Frage von gelungener Interaktion zwischen Form und Leben. Aber das Leben wurde in den 1960er Jahren so gut wie gar nicht untersucht. Deshalb widme ich mich dieser Frage nun seit gut 50 Jahren.

Wie können denn Städte besser organisiert werden?

Städte sollten nicht nur für den Verkehr oder um den Verkehr herum geplant werden. Es muss darum gehen, dass sie gute Orte zum Leben und Arbeiten sind. Diese Orte sollten dann mit Mobilität durchflochten werden – aber in einer sensiblen Art und Weise, die den Verkehr nicht in den Vordergrund rückt.

Jan Gehl

ist Architekt und Stadt­planer in Kopen­hagen. Sein Fokus ist die Verbesserung der Lebens­qualität, vor allem von Fuß­gängern, Rad­fahrern, Kindern und Älteren.

Venedig ist beispielsweise ein sehr gutes Modell für eine Stadt der Zukunft: Exzellente Kieze für Fußgänger und Fahrradfahrer, die mit einem intelligenten und modernen öffentlichen Nahverkehr verbunden sind und wo man sein Fahrrad umsonst in Bussen und Schiffen mitnehmen kann.

Ich bin sicher, dass wir in den nächsten Jahren viele Verbesserungen im Nahverkehr erleben werden – auch weil dieser Sektor in den meisten Städten total unterentwickelt ist.

Haben Privatautos in Städten eine Zukunft?

Ich glaube, die großen Tage von privaten Autos in Städten sind vorbei. Die Idee der Mobilität, jeden mit vier Gummirädern auszustatten, war eine gute Strategie für den Wilden Westen vor hundert Jahren. Aber in modernen Großstädten mit bis zu 20 Millionen Menschen hat sich gezeigt, dass dies überhaupt keine gute Idee ist.

Staus, lange Wartezeiten, verschmutzte Luft, Ressourcenverschwendung, Klimabelastung und Gesundheitsprobleme sind der Beweis dafür, dass vier Gummiräder für jeden keine gute Mobilitätsstrategie für Städte im 21. Jahrhundert ist. Die Menschheit könnte sich so viel cleverer organisieren.

Was heißt es für Sie, Gebäude und öffentliche Räume für die Bedürfnisse der Menschen zu planen?

 

Wenn ich auf die 50 Jahre zurückblicke, in denen ich geforscht, Bücher geschrieben und Projekte geleitet habe, um weltweit Städte lebenswerter zu machen, fühle ich mich fast ein bisschen wie der kleine Junge in Hans Christian Andersens Märchen "Des Kaisers neue Kleider". Der Junge spricht die von allen ignorierte, aber offensichtliche Tatsache aus, dass der Kaiser mächtig stolz, aber nackt herumläuft.

Das ist keine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern ganz einfach gesunder Menschenverstand. All die Nachteile der überholten Stadtplanung wurden bisher übersehen – doch nun werden sie langsam offensichtlich.

Können Sie als Architekt auch etwas gegen die Gentrifizierung tun und verhindern, dass Menschen mit niedrigen Einkommen aus den Stadtzentren verdrängt werden?

Wenn man die Wohnumgebung der Menschen attraktiver macht, kommen meistens gut verdienende Leute auf den Geschmack und verdrängen nach und nach die alteingesessenen Mieter mit geringeren Einkommen. Das ist eine ernste Sache und eine nicht zu akzeptierende Entwicklung.

Aber mit den Verbesserungen in den Stadtteilen aufzuhören, damit die Kieze möglichst unattraktiv bleiben, ist auch keine Lösung. Das Wissen, wie man Städte lebenswert macht, ist da. Wir müssen es anwenden und gleichzeitig auf die Politik einwirken, damit diese auch sozial verträgliche Mieten garantiert. Gentrifizierung ist kein Umweltproblem, sondern ein politisches Problem.

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