Hartmut Graßl. (Foto: MPI-M)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Kuratoriums erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.

Klimareporter°: Herr Graßl, eine Studie des australischen Thinktanks Breakthrough warnt davor, den Klimawandel zu unterschätzen. Schon für die nächsten 30 Jahre gebe es eine Wahrscheinlichkeit von fünf Prozent, dass sich das Klima um 3,5 bis vier Grad erwärmt. Was halten Sie davon, dass sich die Klimaforschung stärker mit den Worst-Case-Szenarien befassen sollte?

Hartmut Graßl: Bei der Abschätzung der Empfindlichkeit des Klimas gegenüber einer Erhöhung der Treibhauskonzentration ist die Unsicherheit nicht wesentlich geringer geworden, seit im Jahr 1990 der erste Sachstandsbericht des IPCC eine erste systematische Bewertung vorgenommen hat.

Immer mehr Rückkopplungen zwischen Atmosphäre, Ozean, Land, Eis und Böden sowie Vegetation sind – nur teilweise verstanden – in den jetzt oft Erdsystemmodelle genannten Klimamodellen hinzugefügt worden. Obere wie untere Abschätzungen der Erwärmung an der Erdoberfläche – bei einer Strahlungsbilanzstörung der Erde durch erhöhte Treibhausgasemissionen – sind daher in den wissenschaftlichen Bewertungen für die Regierungen nie ausgeschlossen worden.

Allerdings neigen Entscheidungsträger dazu, ihr Handeln eher an den unteren Abschätzungen auszurichten. Die Zivilgesellschaft ist zurzeit eher gespalten in solche, die wissenschaftliche Aussagen zu den von uns Menschen verursachten Klimaänderungen kleinreden oder gar negieren – in Deutschland eine kleine Minderheit – und solche, die die Alarmglocken läuten, also Worst-Case-Szenarien betonen, wie die angesprochenen australischen Kollegen.

Weil wir seit 1990 nur wenig oder gar keine global koordinierte Klimapolitik betrieben haben, ist trotz des Paris-Abkommens schon jetzt ein Meeresspiegelanstieg über Jahrhunderte mit mindestens einigen Metern nicht mehr zu verhindern.

Nach dem 1,5-Grad-Sonderbericht des IPCC vom Oktober 2018 ist etwa ein Drittel des noch existierenden Eises im Ungleichgewicht. Es wird auch bei Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels in den nächsten Jahrhunderten abschmelzen.

Um zwei Prozent ist der CO2-Ausstoß der globalen Energiewirtschaft 2018 gestiegen, so die diesjährige BP-Analyse. Unter anderem lag das an mehr Hitze- und Kältewellen: Es wurde mehr geheizt und mehr gekühlt. Ist das schon ein selbstverstärkender Effekt der Klimakrise?

Bei Analysen der global agierenden Industrie bin ich zunächst skeptisch, weil oft Geschäftsinteressen die Feder mit führen. Was den globalen Kohlenstoffkreislauf anbelangt, verlasse ich mich eher auf den jährlich fortgeschriebenen Bericht des Global Carbon Project, der für 2018 nach wenigen Jahren der Stagnation oder des geringen Anstiegs der Kohlenstoffemissionen ebenfalls wie BP einen Anstieg meldete.

Laut dem Bericht ist die Nutzung der Kohle leicht geschrumpft, die Nutzung von Öl hat leicht und die von Erdgas kräftiger zugenommen. Dadurch sind die Kohlendioxidemissionen im vergangenen Jahr rascher angestiegen als in den fünf Jahren zuvor. Ein Effekt der Klimaänderungen ist aus den Berichten des Global Carbon Project nicht ablesbar.

In Bonn beginnt am Montag eine Vorbereitungskonferenz für den nächsten Weltklimagipfel. Was muss diese Konferenz leisten, damit der Gipfel im Dezember in Chile ein Erfolg wird?

Die 24. Vertragsstaatenkonferenz in Katowice hat zwar große Teile des Regelbuches zur Verwirklichung des Paris-Abkommens geschaffen, aber noch Teile der Finanzierungsmechanismen ausgespart. Nur eine klare Vorabsprache in Bonn kann diesen fehlenden Teil sehr wahrscheinlich machen.

Weiterhin hat der IPCC-Sonderbericht zum 1,5-Grad-Ziel einige sehr unangenehme und herausfordernde, aber kaum beachtete Aussagen gemacht wie die folgende im Kapitel 3: "Klimapolitische Entscheidungen werden den Meeresspiegel sehr stark beeinflussen, und zwar nicht nur für dieses Jahrhundert, sondern über viele Jahrtausende. Über diese Zeiträume sind 50 Meter Meeresspiegelanstieg möglich. ... 28 bis 44 Prozent des heutigen Eisvolumens sind im Ungleichgewicht, in wenigen Jahrhunderten werden sie abschmelzen, auch wenn es keinen weiteren Klimawandel gäbe."

Die Konferenz muss diesen Punkt als besonders dringlich diskutieren und dadurch insgesamt weit mehr Anstrengungen zur Emissionsreduktion einzelner Vertragsstaaten fordern, als dies bisher der Fall war. Deutschland sollte rascher aus der Kohlenutzung aussteigen.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Der Erhalt der Wälder in den Tropen ist effizienter als Wiederaufforstung.

Das Paris-Abkommen hat durch sein hehres Ziel, die mittlere globale Erwärmung unter zwei Grad zu halten und sogar 1,5 Grad anzustreben, nicht nur Emissionsminderungen als die Hauptaufgabe definiert, sondern auch die Kohlenstoffspeicherung in Böden und Vegetation als weitere globale Aktivität indirekt erzwungen.

In der Fachzeitschrift Nature Climate Change haben Jonah Busch und Kollegen jetzt beschrieben, dass die Erhaltung der Wälder in den Tropen die billigste Zusatzspeicherung wäre und nicht die Wiederaufforstung. Für 90 Länder in den Tropen fanden die Kollegen heraus, dass für einen Preis von 20 US-Dollar pro Tonne Kohlendioxid bis 2050 nur 5,7 Milliarden Tonnen Kohlendioxid aus der Atmosphäre in neuen Wäldern gespeichert werden könnten. Bei einem Preis von 50 Dollar pro Tonne könnten 15 Milliarden Tonnen Kohlendioxid der Atmosphäre entzogen werden.

Dagegen würde der Erhalt der noch bestehenden Wälder ungefähr die sieben- bis zehnfache Menge Kohlenstoff zusätzlich speichern, nämlich 55 Milliarden Tonnen bei Kosten von 20 Dollar oder 108 Milliarden Tonnen bei Kosten von 50 Dollar pro Tonne. In 21 Ländern, 17 davon in Afrika, ist jedoch die Wiederaufforstung bei einem Preis von 20 US-Dollar pro Tonne Kohlendioxid die effizientere Methode.

Dieses Ergebnis ist nur wegen des Kohlendioxid-Düngeeffekts möglich. Denn ein schon etablierter Wald und die zugehörigen Böden speichern noch mehr Kohlenstoff, weil das Lebensmittel Kohlendioxid konzentrierter angeboten wird und damit die Wassernutzung der Bäume effizienter werden kann – immer sofern andere Düngemittel keine Mangelware sind.

Fragen: Jörg Staude

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