Białowieża
Auch eine Verengung von Klimaschutz auf CO2-Reduktion verstärkt die "Ökosystem­vergessenheit". (Foto: Włodzimierz Siedem/​Flickr)

Viele Wälder in Deutschland vertrocknen, immer häufiger brennen sie. Gleichzeitig ertrinken andere Regionen in Sturzfluten. Missernten und Hunger breiten sich wieder in der Welt aus. Die Klimakrise ist Realität. Bilder in den Medien von leidenden Menschen und verbrannter Erde muten apokalyptisch an.

Die Krise der Menschheit ist umfassend, nie war so viel Risiko wie heute. Das ist schlimm. Und es ist auch gut. Denn immer mehr Menschen erkennen die vielen Facetten dieser Krise. Sie spüren die Auswirkungen am eigenen Leib. Sie spüren, dass unsere globale Lebensweise so nicht mehr funktioniert.

Unsere globalisierte, rücksichtslose, auf der Organisation von Ungleichheit und dem Schuldenmachen bei der Natur aufgebaute Welt ist am Ende. Sie verbraucht immer mehr unersetzliche Ressourcen. Sie treibt ungebremst die Klimakrise voran und zerstört das globale Ökosystem, das uns trägt.

Das aktuelle Wirtschaften und Regieren kann für die meisten Menschen der Welt weder Nahrung noch Wasser, Bildung, Gesundheit oder Frieden gewährleisten. Eine Verlängerung der Gegenwart hat keine Zukunft mehr.

Wir suchen nach Lösungen. Lösungen, die ein gutes Leben ohne Mangel und Überfluss möglich machen. Doch diese Lösungen werden wir nicht finden, wenn wir in alten Ideologien verharren. Unsere Kultur mit den sich schnell entwickelnden Technologien schafft immer mehr Lösungen für Probleme, die wir ohne sie gar nicht gehabt hätten. Und sie schürt eine fatale Erd- und Ökosystemvergessenheit.

Wir leben in "unserem" Zeitalter, dem Anthropozän – und geben uns immer noch dem Glauben hin, wir wären die Krone der Schöpfung, Herrscher des Planeten, die wichtigste und großartigste aller Arten. Und wir liegen damit komplett falsch.

Die Philosophie der Aufklärung hat uns Jahrzehnte der Industrialisierung und Globalisierung begleitet, hat uns glauben lassen, dass der technische Fortschritt für alles sorgen wird: soziale Gerechtigkeit, ein besseres Leben für alle, Wohlstand und Sicherheit – solange wir nur weiterwachsen und wirtschaften wie bisher. Und falls es uns auf der Erde zu eng werden sollte, kolonisieren wir die Weiten des Weltalls.

Natur als Ausgangspunkt, Menschen als Ziel

Keine dieser Verheißungen ist eingetreten, stattdessen leben wir in gesellschaftlichen und immer mehr auch in ökologischen Dauerkrisen. Die schöne neue digitale Welt gaukelt uns vor, alles könne nur noch schöner und bequemer werden. Netflix und Spotify machen vielen von uns das Leben schöner, sie sind unsere "Spiele". Doch das "Brot" für andere wird immer knapper.

Porträtaufnahme von Pierre Ibisch.
Foto: Deutsche Umweltstiftung

Pierre Ibisch

ist Biologe und Professor für Natur­schutz an der Hoch­schule für nach­haltige Ent­wicklung Ebers­walde. Er forschte in Süd­amerika zu Land­schafts­ökologie und Bio­diversität und ist weltweit in Ökologie­projekten tätig.

Wir brauchen einen neuen Ansatz, der die planetaren Grenzen akzeptiert und zugleich das Wohl der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Beides gehört zusammen. Keines dieser beiden Prinzipien ist heute Maßstab des Handelns in Wirtschaft und Gesellschaft. Doch ohne ihre konsequente Anwendung ist Zukunft nicht denkbar.

Es geht dabei nicht um etwas mehr Ökologie oder Gerechtigkeit. Es geht auch nicht um das neuerdings viel beschworene Gleichgewicht zwischen Ökonomie und Ökologie. Das wird nicht reichen. Wir werden mit diesen alten Vorstellungen vollständig brechen müssen.

Unser Denken muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden, ja, es muss im wahrsten Sinne des Wortes geerdet werden. Geerdetes Denken wurzelt im Ökosystem. Es beginnt in der Natur und richtet sich auf den Menschen aus.

Porträtaufnahme von Jörg Sommer.
Foto: Deutsche Umweltstiftung

Jörg Sommer

Der Politik­wissen­schaftler, Soziologe und Autor leitet die Deutsche Umwelt­stiftung, die älteste und größte Bürger­stiftung Europas. Er ist Mit­heraus­geber des Jahr­buchs Ökologie und Direktor des Instituts für Partizipation.

Hieraus ergibt sich die neue Denkrichtung: die Natur als Ausgangspunkt, die Menschen als Ziel. Sie stellt den Glauben an den Menschen und seine Befähigung zu gutem Handeln in den Mittelpunkt.

Das ist ein moderner und gesunder Anthropozentrismus: Dieses Denken vereinbart die Idee der Großartigkeit des Menschseins mit dem gebührenden Respekt vor den menschlichen Schwächen und der tatsächlichen Rolle von uns Menschen in der Natur.

Diese neue, fundamental andere Denkrichtung ist jene Philosophie, die es braucht, um unser menschliches Handeln im Anthropozän neu auszurichten – in den Debatten der jüngeren Zeit ist dafür der Begriff des "Ökohumanismus" entstanden.

Gutes Leben für alle in den Grenzen des Planeten

Der Ökohumanismus erfindet keine neuen Begrifflichkeiten. Er kommt ohne Mystik und religiösen Eifer aus. Er teilt die Menschheit nicht in "gut" und "böse" ein. Er kennt keine Gegner und verheißt kein Paradies. Er verspricht nichts und verurteilt niemanden. Und er erwartet keinen Glauben. An Jüngern hat er kein Interesse.

Letztlich basiert er auf zwei einfachen Grundsätzen:

  • der Akzeptanz der ökologischen Grenzen und unserer Rolle als Bestandteil dieses Ökosystems und

Alles andere ergibt sich daraus. Denken wir diese beiden Grundsätze weiter, legen wir sie an die großen Herausforderungen unserer Zeit an, betrachten wir Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit, Krieg, Flucht und Vertreibung und andere scheinbar unlösbare Probleme vor diesem Hintergrund, ergeben sich klare Antworten.

Lassen wir uns darauf ein, ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten. Konsequent angewendet, bietet der Ökohumanismus Antworten auf alle großen Fragen unserer Zeit. "Wir, die Menschen, mit der Natur für die Menschen in der Natur."

Das Buch

Pierre Ibisch, Jörg Sommer: Das ökohumanistische Manifest. Unsere Zukunft in der Natur. Hirzel, Stuttgart 2021, 173 Seiten, 15 Euro.

Kompakt zusammengefasst ist diese neue Philosophie im kürzlich erschienenen "Ökohumanistischen Manifest", das in zehn Thesen unter anderem eine neue kritische Sicht auf eine unkontrollierte Digitalisierung bietet, die Gefahr weiteren Wachstums einer nicht gemeinwohlorientierten Wirtschaft hinterfragt, für eine neue Sicht auf gesellschaftliches und privates Eigentum plädiert und unkonventionelle Sichtweisen auf Religionen, Bildungssysteme und verkrustete Herrschaftsstrukturen bietet.

Vieles darin ist neu, manches wird zum Widerspruch reizen. Doch das ist die Absicht der Autoren – und das Humanistische am Ökohumanismus: Es geht darum, nachzudenken und nicht nachzuplappern.

Anzeige