Klimareporter°: Herr Geden, gestern demonstrierte Fridays for Future unter dem Motto "No more empty promises" – keine leeren Versprechungen mehr. Haben die Jugendlichen recht, und die Klimaziele von Firmen und Ländern sind leere Versprechen?
Oliver Geden: Die meisten Klimaversprechen sind zumindest zu vage. Das gilt besonders für die sogenannten Netto-Null-Ziele.
"Netto null" bedeutet ja zweierlei: Einerseits gibt es noch Restemissionen. Und andererseits werden diese kompensiert, indem man der Atmosphäre CO2 entnimmt und in Senken speichert. Das brauchen wir etwa für die Prozessemissionen aus der Zementherstellung und für einen Teil der Emissionen aus der Landwirtschaft.
Wie hoch die Restemissionen und damit die CO2-Entnahme sind, ist allerdings meist unklar. Das Gleiche gilt für die Art von Senken. Die EU, und damit auch Deutschland, muss eine Senkenstrategie entwickeln.
Gibt es noch weitere Gründe, warum wir der Atmosphäre CO2 entnehmen müssen?
Ja, das Risikomanagement. Um unerwartet große Rückkopplungen im Erdsystem abfangen oder auf geopolitische Krisen reagieren zu können, wären größere Kapazitäten zur CO2-Entnahme hilfreich, quasi als Versicherung.
Warum wird die CO2-Entnahme bislang kaum diskutiert?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Da sind etwa die CO2-Kompensationen durch Offset-Zertifikate. Wir haben Unternehmen, die sagen, wir sind heute schon auf netto null oder spätestens übermorgen, die aber an ihrem Geschäftsmodell wenig ändern und sich einfach Offsets dazukaufen. Wir erleben gerade eine Welle, wo das wieder passiert.
Dann gibt es die Befürchtung, dass sich die Haltung durchsetzt: Lasst uns einfach eine Großinfrastruktur aufbauen für CCS – Carbon Capture and Storage, also das Abscheiden und Verpressen von CO2 im Untergrund –, und ansonsten machen wir weiter wie bisher. Wir dekarbonisieren lange nicht so stark, wie wir könnten, und packen damit jede Menge anderer Probleme nicht an.
Oliver Geden
ist Sozialwissenschaftler und Leitautor für den Sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarates IPCC. Er forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Dort leitete er fünf Jahre die Forschungsgruppe Europa.
Und schließlich hat man früher in klimaökonomischen Modellen negative Emissionen zur ökonomischen Optimierung genutzt. Wenn man annimmt, dass es irgendwann in der zweiten Jahrhunderthälfte möglich wäre, der Atmosphäre riesige Mengen CO2 zu entziehen, dann könnte man das der Welt verbleibende CO2-Budget erstmal überziehen und die nötige Transformation hinausschieben.
Die Modellierer haben gelernt, dass man diesen Mechanismus einschränken muss, weil die Uhr aus Sicht der Politik sonst immer auf "fünf vor zwölf" stehen bleibt.
Von wie viel CO2 reden wir, das in Senken gebunden werden muss?
Die kürzlich veröffentlichte Studie "Klimaneutrales Deutschland" von Prognos, Öko-Institut und Wuppertal-Institut geht davon aus, dass sich die Ziele bis 2050 nur erreichen lassen, wenn fünf Prozent der Emissionen des Jahres 1990 durch Senken kompensiert werden. Das wären 62,5 Millionen Tonnen pro Jahr.
Vor allem durch Aufforstung werden aktuell in Deutschland 15 bis 20 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr gebunden. Da klafft also eine erhebliche Lücke. Außerdem nimmt die Senkenwirkung der Wälder ab, nicht zuletzt wegen Klimaeffekten.
Gibt es bei der CO2-Entnahme "No regret"-Maßnahmen, also Maßnahmen mit Zusatznutzen, die man auf jeden Fall nicht bereuen wird?
Alles, was mit der Wiederherstellung von Ökosystemen zu tun hat, fällt in diese Kategorie, weil man einen Zusatznutzen für die Artenvielfalt hat. Dazu gehört etwa die Renaturierung von Mooren. Das führt zwar kurzfristig zu mehr Methanemissionen, aber langfristig wird viel CO2 gebunden.
Was ist mit der Landwirtschaft? Die verursacht schließlich einen Teil der Restemissionen.
Das Stichwort heißt hier "Carbon Farming". Dabei geht es um die Bindung von CO2 in den Böden durch neue landwirtschaftliche Methoden. Davon gibt es mehrere. Man kann zum Beispiel Biokohle produzieren und in Böden einarbeiten. Das hat den Zusatznutzen, das die Bodenqualität verbessert wird.
Interessant ist auch die beschleunigte Verwitterung von Gestein, ein natürlicher Prozess, bei dem CO2 über sehr lange Zeiträume gebunden wird. Man kann das Gestein kleinmahlen und dann auch auf den Feldern ausbringen. Das macht die Ökolandwirtschaft bereits mit Basalt. Bei solchen Methoden fehlt es aber noch an Forschung, das sind bislang nur theoretische Potenziale.
Zurzeit diskutiert die EU über die Gemeinsame Agrarpolitik für die nächsten sieben Jahre. Werden dort Anreize für den Hochlauf von Carbon Farming gesetzt?
Die EU-Kommission ist sehr daran interessiert, diesen Ansatz zu nutzen, um die Emissionen des Agrarsektors zu senken und auch alternative Finanzquellen für Landwirte zu erschließen. Vieles wird letztlich von den Mitgliedsstaaten abhängen.
Vorher muss die Kommission aber erst einmal die Grundvoraussetzungen schaffen und bis 2023 ein System zur Zertifizierung geeigneter Verfahren erarbeiten. Bei landbasierten Methoden ist es nicht ganz leicht zu ermitteln, wie viel CO2 tatsächlich dauerhaft gespeichert bleibt.
Kommen wir zu CCS. Damit lassen sich einerseits Emissionen vermeiden, indem man etwa das CO2 aus der Zementproduktion tief unter der Oberfläche verpresst. Man kann mit CCS aber auch negative Emissionen erzielen.
Wenn man Biogas oder Holz in einem Kraftwerk verbrennt und dann das CO2 speichert, hat man der Atmosphäre netto CO2 entzogen: Bioenergie plus CCS oder kurz BECCS ist das Stichwort.
Oder man kann CO2 direkt aus der Luft filtern und dann verpressen: Direct Air Capture plus CCS, kurz DACCS. Werden wir diese Methoden in Deutschland brauchen?
Ich denke schon. Auch die erwähnte Studie "Klimaneutrales Deutschland" geht fest davon aus, schon weil das CO2 langfristig gespeichert bleibt. Damit ist aber noch nicht gesagt, wie viel CO2 es sein wird und wo genau es gespeichert wird.
In Deutschland gibt es dafür aber keine gesellschaftliche Akzeptanz. Der Begriff "CCS" ist toxisch. Wie muss sich die öffentliche Diskussion entwickeln, damit CCS akzeptiert wird?
Dazu gehören mehrere Elemente. Die Bevölkerung muss sich sicher sein, dass es wirklich nicht mehr um die Verlängerung der Kohleverstromung geht, sondern um Emissionen, bei denen es nicht anders geht und die Speicherung in Wäldern oder Böden nicht ausreicht.
Für die Akzeptanz in Deutschland wird es eine große Rolle spielen, wie Klimaschutzvorreiter innerhalb der EU mit dem Thema umgehen. Schweden hat ja ein Netto-Null-Ziel für 2045, Finnland für 2035. Danach wollen beide sogar unter null, dort stellt sich die Frage also noch dringender.
In Stockholm setzt der städtische Versorger Biokohle in der Fernwärme ein und hat für ein Biomasse-betriebenes Blockheizkraftwerk eine BECCS-Versuchsanlage eröffnet. Das Kraftwerk wird zum Großteil mit Holzabfällen betrieben, also mit Reststoffen, nicht mit Energiepflanzen.
Uns stehen also noch viele kontroverse Diskussionen bevor.
So ist es. Das Gute am Netto-Null-Ziel ist, dass dadurch viele Fragen auf den Tisch kommen. Wie hoch sollen die Restemissionen sein und damit die CO2-Entnahme? Welche Art von Senken wollen wir? Wie regulieren wir das, damit der klassische Klimaschutz nicht zu kurz kommt?
Und dann ist da noch der innereuropäische Ausgleich: In der EU wird nicht jedes Land im Jahr 2050 auf netto null sein, und das wird politisch sehr heikel. Wer muss 2050 schon unter null sein, um die Emissionen anderer zu kompensieren?
Da geht es nicht nur um Polen, sondern zum Beispiel auch um Irland. Dort kommt ein Drittel der Emissionen aus der Landwirtschaft, und Emissionen wie Methan und Lachgas machen in vielen Modellen die Hälfte der Restemissionen aus. Da wird es in Deutschland sicher Debatten geben, ob man durch gesteigerte CO2-Entnahme nicht letztlich ein "Weiter so" in der irischen Landwirtschaft befördert.
Wenn man sich Emissionspfade anschaut, dann hat man schnell den Eindruck, diese Fragen stellen sich erst kurz vor 2050. Dieser Eindruck ist allerdings falsch. Wir müssen jetzt anfangen, uns mit diesen Fragen zu beschäftigen, um die CO2-Entnahme dann tatsächlich noch vor 2050 hochskalieren zu können.